Samstag, 27. Dezember 2008

Im Nationalpark Popocatépetl-Iztaccíhuatl

Èrase una vez... Es war einmal, zu der Zeit, als die Azteken noch das Land bevölkerten, ein Krieger. Der hielt um die Hand einer Königstochter an und diese wollte ihn gern zum Manne nehmen, doch vorher musste er noch ein Heer in den Krieg führen. Die Hochzeit sollte stattfinden, sobald der Krieger zurückkehrte. Doch dann wartete die Königstochter monatelang auf eine Nachricht von ihrem Geliebten, die nie kam. Und es entstand das Gerücht, er sei im Kampf gefallen. Der König fasste den Entschluss, seine Tochter einem anderen Mann zur Frau zu geben, doch die Prinzessin wollte keinen anderen und nahm sich das Leben. Als der Krieger tagsdarauf heimkehrte fand er nur noch den aufgebahrten Leichnam seiner Verlobten. Fassungslos hob er den toten Körper auf, trug ihn auf einen Berg und bettete ihn auf den Gipfel. Er zündete eine rauchende Fackel an und lies sich neben seiner toten Geliebten nieder. Die Götter, gerührt von der Trauer des einsamen Kriegers, deckten beide mit einer Schneedecke zu. Seitdem, so erzählten sich die alten Azteken, wartet der Krieger darauf, dass seine Verlobte wieder erwache. Und sie gaben ihm den Namen Popocatépetl, "rauchender Berg". Die Prinzessin nannten sie Iztaccíhuatl, was so viel bedeutet wie "schlafende Frau". Bis heute wacht der Krieger mit seiner rauchenden Fackel an der Seite seiner geliebten Prinzessin.

Und wer das nicht glaubt, der komme nach Puebla und schaue genau hin: Immer wieder sieht man die Rauchsäule des Popocatépetl in den Himmel steigen. Und die schneebedeckten Gipfel des Vulkans Iztaccíhuatl sehen tatsächlich aus, wie die Silhouette einer schlafenden Frau.

Der Popocatépetl, kurz "Popo", ragt majestätisch über Puebla Besonders vormittags sieht man ihn gut, dann taucht er überraschend vor einem auf, wenn man zu Fuß in eine Straße einbiegt oder mit dem Bus um die Ecke fährt. Plötzlich füllt die Sicht auf den Vulkan die ganze Straßenbreite aus. Oder man sieht seine Rauchsäule über den Dächern der Stadt. Wenn der Popo einen ganzen Straßenzug einnimmt wirkt er ganz nah, aber es sind doch einige Kilometer und da ein guter Teil der Strecke aus ungeteerten Feldwegen besteht, die dann gegen Ende hin zudem sehr steil nach oben führen, brauchten wir rund zwei Stunden als wir zum Popo fuhren - Caro, Julia, Paco, Wolfi, zwei seiner Freunde und ich. Pacos Eltern haben eine cabana, eine Hütte im Nationalpark Popocatépetl-Iztaccíhuatl und im November verbrachten wir ein Wochenende dort.


Der Popocatépetl ist Teil eines Zwillingsvulkans im Hochland von Zentralmexiko. Die schlafende Frau an seiner Seite, der inaktive Vulkan Iztaccíhuatl, ist ein wenig niedriger als der Popo, der mit seiner momentanen Höhe von rund 5.480 Metern einer der höchsten Vulkane der Welt ist. Viele Jahre hatte er geschlafen, doch vor 14 Jahren ist der Riese wieder erwacht. Ein Ausbruch im Dezember 1994 beendete eine circa 50 Jahre dauernde Ruhephase. Aufgrund der Nähe zu Mexico City und Puebla wird der Popocatépetl heute als sehr gefährlich eingestuft - daher ist er auch einer der am besten überwachten Vulkane der Welt. Auf dem Weg in den Nationalpark stand alle paar Meter auf Schildern und in neonfarbenen Lettern quer über die Straße geschrieben: "Ruta de Evacuación". Ein Ausbruch des Vulkans würde vermutlich sämtliche Dörfer am Fuße des Popos a la chingada schicken (also zerstören), deren Bevölkerung sich bis zum heutigen Tag hartnäckig gegen jeden Umsiedelungsversuch zu Wehr setzte. Daher wurden etliche Vorkehrungen für den Fall der Fälle getroffen.

Man darf sich dem Krater des Popo nicht nähern, weiter unten am Berg, gibt es jedoch (Touristen-)Holzhüttendörfer. Wir kamen abends dort an, Paco und Wolfi auf ihren Motocross-Motorrädern und wir anderen im Auto. Allerdings hatte sich schnell herausgestellt, dass Motocross-Maschinen für die steilen, sandigen Pisten wensentlich tauglicher waren als das Auto - wir schafften es gerade so, mit rauchendem, stinkenden Motor zur Hütte von Pacos Eltern. Später in dieser Nacht liefen wir zu einem Aussichtspunkt und zum ersten Mal konnten wir nicht den Vulkan von Puebla aus, sondern Puebla vom Vulkan aus betrachten. Das hatte ich mir schon lange gewünscht, nicht nur als Geografin fasziniert mich der Vulkan - ich musste dort einfach unbedingt hin.

Am nächsten Tag erkundeten wir die Gegend - ich saß dieses Mal zu meiner übergroßen Freude jedoch nicht im Auto, sondern hinten auf Pacos Motorrad und war total glücklich: Motocross fahren am Popocatépetl - etwas Besseres hätte ich mir für dieses Wochenende nicht vorstellen können. Da war es mir auch egal, dass das Wetter nicht mitspielte und wir dank bedecktem Himmel nur ganz früh morgens Aussicht auf den Krater des Popo hatten. Am Vormittag fuhren wir zuerst zu einer jesuitischen Einsiedelei. Den Weg dorthin wiesen uns Schilder mit der Muschel des Jakobswegs, der offensichtlich auch durch die höchsten Gebirge Mexikos führt. Die Einsiedelei war sehr schön, zwischen kleinen Kapellen und plätschernden Brunnen hatten wir eine unvergleichliche Aussicht auf das waldbedeckte Vulkangebirge. Danach fuhren wir zum Paso de Cortez, einem Pass zwischen den Gipfeln des Popocatépetl und der Iztaccíhuatl. Von diesem Pass aus hätten wir eine wunderbare Aussicht auf den rauchenden Krater des Popo gehabt und bestimmt ganz tolle Fotos machen können, wenn, ja, wenn der Himmel nicht komplett bewölkt gewesen wäre...

Auf dem Pass aßen wir an einem mit einer pinken Plastikfolie überdachten Stand Quesadillas de Huitlacoche, Tortillas aus blauem Mais, gefüllt mit Käse, Kürbisblüten und Huitlacoche, also Pilzen, die an Maispflanzen wachsen und die hier in Mexiko als Delikatesse gelten - zurecht, meiner Meinung nach, denn trotz eines sehr eigenen Geschmecks schmeckt Huitlacoche ausnehmend gut. Nach dem Essen fuhren wir dann über die sandigen Pisten bzw. querfeldein weiter hoch bis zu einem Parkplatz, von dem aus man in einem mehrstündigen Marsch den inaktiven Vulkan Iztaccíhuatl besteigen kann. Dazu hatten wir jedoch nicht die Zeit und vermutlich sowieso auch nicht die Kondition. In einer Höhe von über 4000 Metern geht einem sehr schnell die Luft aus, die Lungen schmerzen schon bei leichter Anstrengung und mir war leicht schwindelig - und das obwohl ich bereits vier Monate in einer Höhe von 2300 Metern gelebt hatte (so hoch liegt Puebla). Wir liefen bis zu einem Aussichtspunkt, etwa auf der Höhe der Baumgrenze, von dem aus wir vom Popo NICHTS sahen, dafür aber umso mehr von der rauen, stillen und einsamen Landschaft, die ich sehr schön fand. Damit war unser Wochenendausflug leider schon wieder zu Ende und wir mussten zurück nach Puebla. Es war ein kurzes Wochenende, doch ich hatte mir damit einem Traum erfüllt. Ein Trip zum Popocatépetl war eines der Dinge, die ich hier in Mexiko unbedingt machen wollte. Und ich war da.

Samstag, 15. November 2008

Wenn ganz Mexiko zum Leben erwacht - Oder: Der Día de los Muertos

Der Mexikaner liebt es zu feiern, er liebt die Fiestas. Alles ist ein Grund, sich zu treffen; jeder Vorwand berechtigt, zu feiern. "An wenigen Orten der Welt kann man ein Schauspiel erleben, das dem einer religiösen Fiesta in Mexiko gleichkommt: mit ihren heftigen, spröden, reinen Farben, Tänzen, Zeremonien, Feuerwerken, ungewöhnlichen Trachten und unerschöpflichen Kaskaden von Überraschungen, mit ihren Früchten, Süßigkeiten und allerlei Gegenständen, die man in solchen Tagen auf Plätzen und Märkten verkauft." So beschreibt Octavio Paz die Fiestas in seinem eigenen Land.

Auf einer mexikanischen Fiesta wird jeder Begriff von Ordnung im Tequila ertränkt und alles wirbelt durcheinander - Farben, Geschrei, Gelächter, Schimpfwörter, ... Es geht um Teilhabe, darum, dass die Zeit stehen bleibt und in der Gegenwart verharrt - und sei es nur für eine Nacht. Vergangenheit und Zukunft werden eins oder sind vielleicht auch einerlei - was zählt ist der Moment. "Die Teilnehmer der Fiesta", so Octavio Paz, "verlassen ihren sozialen und menschlichen Rang und werden zu lebendigen, wenn auch vergänglichen Rollenträgern."

Und ich hatte die Chance, an einer mexikanischen Fiesta teilzunehmen, die für mich die bisher ungewöhnlichste aller Fiestas war: Der Día de los Muertos. Der deutsche Feiertag "Allerseelen" wird am gleichen Tag gefeiert und doch könnte das Feiern nicht unterschiedlicher sein. Dort viel grau in grau, windgeschützte Kerzen auf kalten Friedhöfen, andächtiges Lauschen der Messe, Feierlichkeit, Ruhe, Besinnlichkeit - hier in Mexiko Mariachi auf dem Friedhof, Blumenmeere, fröhliches Durcheinander. Singend und Bier trinkend stehen die mexikanischen Familien vor überreich geschmückten Gräbern, manche sind traurig, die meisten nicht. Lachen schallt über den Friedhof, kein kleines verstohlenes Lachen, nein, viele Menschen haben Spaß. Und ich bin fasziniert, denn ganz ehrlich: Wann lacht sich schon mal einer ungeniert auf dem Friedhof schlapp? Allerseelen verbinde ich mit Stille und Einkehr. Also, wenn ich überhaupt irgendetwas damit verbinde. Allerseelen war für mich nie ein bedeutendes Fest. Doch hier ist es genau das: Eine Fiesta, auf die der Mexikaner sich vorbereitet, auf die hingearbeitet wird. Es ist eine ganz besondere Fiesta, eine, die erwartet wird - und zwar schon von den Kleinsten. Die Mexikaner haben eine grundlegend andere Vorstellung vom Tod als wir Deutschen.

Die mexikanische Einstellung zum Tod hat eine lange Tradition. Schon die alten Völker (Olmeken, Maya, Tolteken, Azteken) beschäftigten sich intensiv damit. Für sie war der Tod nicht so unbedingt wie für uns heute. Er war kein Ende an sich, sondern eine Phase im unendlichen Kreislauf von Leben, Sterben und Wiederauferstehung. Erst der eindringende Katholizismus hat diese Vorstellung überformt und Mexiko radikal verändert. Doch so sehr sich die "alte" und "neue" Religion auch unterschieden - beide Haltungen haben etwas gemeinsam: Der Tod bedeutet neues Leben - irgendwann -, er ist ein Durchgang in eine andere Zeitlichkeit. Leben und Tod, - darauf weist Octavio Paz hin -, sind nicht autonom, niemals zu trennen, sondern zwei Seiten einer Medaille. Das Eine existiert nicht ohne das Andere.

Vor diesem Hintergrund scheint es gar nicht so verwunderlich, dass in der Vorstellung vom Tod wenigstens ein Teil des alten Glaubens die conquista des Katholizismus überlebt hat - bis heute! Und während in vielen modernen Industriegesellschaften das Leben voranschreitet als gäbe es den Tod überhaupt nicht, geht der Mexikaner damit um - auf seine ganz eigene, mexikanisch bunte, traurige und gleichzeitig fröhliche Art und Weise.


Der Tod ist im mexikanischen Alltag sehr präsent. Er ist furchtbar, wenn er eintritt; traurig in der Phase der Trauer; Ende des irdischen Lebens und doch nicht das Ende von allem. Der Mexikaner hat keine Angst. Im Gegenteil: er foppt den Tod, hänselt ihn, spielt damit, lacht ihn aus. Und im Oktober lässt er ihn Einzug halten in Häuser und Geschäfte. Dann finden sich an jeder Ecke Skelette, Totenköpfe aus Zucker, Särge aus Schokolade mit Skeletten darin, die Tequilaflaschen in der Hand halten oder eine Zigarette - der Tod ist süß, das soll auf diese Weise veranschaulicht werden. Der Tod ist süß und die Geister der Toten sind keine Schreckgespenster - im Gegenteil: Lebende und Toten stehen in gutem Kontakt. Die Verbindung bricht in der mexikanischen Vorstellung nie wirklich ab: Jeder kann hin und wieder zur Seele eines Verstorbenen Kontakt aufnehmen. Und ein Mal im Jahr erwacht ganz Mexiko wieder zum Leben - in den Tagen des Día de Los Muertos. Und der Ausdruck "GANZ Mexiko" ist hier auch ganz wörtlich zu verstehen. Denn ein Mal im Jahr, in den Tagen um den ersten November, kehren die Seelen der Toten zurück.

Und das wird gefeiert: An der Uni hatten wir ab Mittwoch keine Vorlesungen mehr - stattdessen gab es Altar-Wettbewerbe auf dem Campus unter dem Motto `Wer macht den schönsten Altar?` Auch Montag und Dienstag hatten wir unifrei. Da war der Día de los Muertos zwar längst rum - aber wie gesagt: Der Mexikaner liebt das Feiern. Und wenn ein Feiertag auf´s Wochenende fällt, dann - so steht es in der Verträgen der Professoren - wird eben an den Wochentage darauf gefeiert und alle haben frei. Viva México! Viva! Viva!


Die Mexikaner machen ein Volksfest aus Allerseelen - (Jahr-)Märkte auf den Straßen, Musik auf den Friedhöfen, Festessen in den Häusern. Es sind höchst lebhafte Tage: einer für tote Kinder, einer für Unfallopfer, einer für alle Toten, ... Die Einstellung der Mexikaner zum Tod und zu den Toten äußert sich in diesen Tagen in jahrhundertealten Ritualen:
Wir waren in Huaquechula, einem kleinen, unterentwickelten Dorf, etwa zwei Busstunden von Puebla entfernt. Dort ist sind Pferde wirklich nohc Transportmittel und der Día de los Muertos wird sehr traditionell gefeiert. Die orangefarbenen Blütenblätter, die vor den Eingängen der Häuser verstreut werden, weisen nicht nur den Seelen der Toten den Weg. Viele Familien rücken die Möbel zur Seite, öffnen ihre Häuser und geben den Blick frei auf eigens für diese Fiesta errichtete Altäre, mit denen sie ihren Verstorbenen gedenken und über die sie ihren Toten den Weg zurück nach Hause eröffnen. Jeder ist eingeladen einzutreten und zu verweilen. Für uns gab es viel zu sehen: In Huaquechula waren die Altäre sehr traditionell, mit viel weißem Stoff, Engelchen, langen Kerzen. In Puebla sahen wir auch ganz andere Altäre in der Casa de la Cultura, im Haus der Kultur. Dort waren der Gestaltung keine Grenze gesetzt: traditionelle Altäre fanden sich neben modernen. Errichtet waren sie für die unterschiedlichsten Menschen. Es gab Altäre für Azteken, für den Kriegsgott, für die ersten Telefonisten Mexikos, für Schauspieler, Musiker, Komponisten, für Sanitärer, für die Opfer des Studentenmassakers vom 2. Oktober 1968, für Papst Johannes Paul den II., für Emilio Zapata, für Pixel, für entführte Frauen und für viele mehr. Gemein war allen Altären eines: Das Essen, das darauf angerichtet war. Die Familien stellen Gerichte für die Toten bereit, meist das Lieblingsessen der Verstorbenen, aber auch Früchte, Süßigkeiten, Zigaretten, Bier, Tequila, ... Wenn die Lebenden später das Essen essen stellt sich eine Verbindung zur Seele der Verstorbenen her. In Huaquechula gab es dann noch Essen für alle. Jeder, der in ein Haus kam, um den Altar zu besichtigen, wurde eingeladen zu bleiben. In den Hinterhöfen waren große Tafeln errichtet und jeder bekam etwas zu essen.


Viele Familien sparen das ganze Jahr über, nur um in diesen Tagen einen Altar errichten zu können und das ganze Dorf und alle Zugereisten zum Essen einzuladen. Das Bild dieser Fiesta ist gezeichnet vom Übermaß - an Früchten, Broten, an weißem Stoff und an Blumen, vor allem an Blumen. Es scheint eine rituelle Verschwendung von Gütern zu sein, die die Familien mühevoll das ganze Jahr angesammelt haben. Es ist vielleicht Verschwendung und doch kann ich nicht schreiben, es sei Vergeudung. Octavio Paz: "Ja man kann sozusagen an der Zahl und am Aufwand unserer Feste unsere Armut ermessen. Die reichen Länder haben ihrer nur wenige. Es fehlt ihnen an Zeit und an Stimmung und außerdem sind sie gar nicht notwendig. [...] Doch wie könnte ein armer Mexikaner ohne diese zwei, drei Fiestas jährlich leben, die sein Elend und seine Sorgen aufwiegen. Es ist der einzige Luxus."

Am Sonntag waren wir auf dem Panteón Municipal, dem städtischen Friedhof Pueblas. Bereits am Freitag haben Caro, Yaneli und ich den Friedhof zum ersten Mal besichtigt. Und was wir sahen war schön. Nichts ist da mit deutscher Ordentlichkeit und nichts in Reih und Glied: Es herrscht ein Durcheinander von individuellen Gräbern, manche reich verzierte kleine Schlösser, andere nicht mehr als ein Erdhügel, auf dem alte Blechdosen als Blumenvasen stehen. In vielen Gräbern liegen mehrere Menschen, bis zu acht vor einander in die Erde gerammte Kreuze habe ich gezählt. Es war schön. Wir haben den Menschen bei ihren Vorbereitungen zugeschaut und waren am Sonntag also auf Blumenteppiche gefasst - nicht jedoch auf einen großen Markt und soooooo viel Andrang. Vor den Toren des Friedhofs hatten viele Händler ihre Stände aufgebaut. Es gab einfach alles: Blumen, illegal gebrannte CDs (CDs piratas genannt), Kleidung, Süßigkeiten und jede Menge typisches Straßenessen. Als Caro und ich nach ausgiebigem Schauen und Probieren den Friedhof betreten wollten staunten wir nicht schlecht: Ein- und Auslass wurde geregelt, so viel war da los. Gleich hinter dem Eingang prangte ein überdimensionales Schild mit der Aufschrift: "Alkohol und Essen verboten". Darunter fand sich ein Stand der Stadt an dem Wasser ausgeschenkt wurde - und Bier. Überall waren Menschen dabei zu putzen, Berge von Blumen zu schleppen, Gräber zu schmücken und teilweise neu zu streichen. Familien standen um die Gräber - manche andächtig, andere grölend vor Lachen. Caro und ich waren in all dem Treiben die einzigen offensichtlichen Ausländer. Doch zum ersten Mal fielen wir nicht auf. Die Menschen waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Niemand hat uns beachtet. Und so konnten wir still teilhaben und eine richtig mexikanische Fiesta erleben, die irgendwie gewöhnungsbedürftig, jedoch rein und authentisch war - auf jeden Fall merkwürdig.


"An wenigen Orten der Welt kann man ein Schauspiel erleben, das dem einer religiösen Fiesta in Mexiko gleich kommt."
Ich denke Octavio Paz hat recht. Und ich liebe die mexikanischen Fiestas, ihre Gerüche, ihren Lärm, ihre Farben, das fröhlich-aufgekratzte Chaos. Ich schaue mit dem Blick einer Fremden, für mich ist alles neu - und gerade in diesen Tagen schien mir manches gewöhnungsbedürftig. Ich werde immer wieder überrascht. Während des Día de Los Muertos waren es vor allem meine eigenen Gedanken über den Tod, die mich überraschten. Der Mexikaner geht ganz anders damit um, als ich es bisher kannte. Und vielleicht - das ist meine Meinung - vielleicht hat er den besseren Weg gewählt, Meilen entfernt vom Wegsperren des einen Gedankens, der sich dauerhaft niemals und aus keinem Leben wegsperren lässt. Sterben scheint einfacher zu sein in Mexiko. Und mir fiel etwas ein, was ich versuchen werde, für immer zu behalten: Der Tod ist gar nicht so schrecklich, weil er so ist - sondern weil wir ihn dazu machen.

Mittwoch, 12. November 2008

Urlaub im Urlaub in Yucatán und Quintana Roo

Meine Professoren hatten mir zwei Wochen frei gegeben - während des Semesters. Viva México! Viva! Viva! Roland und ich haben die Zeit genutzt um den Süden Mexikos zu erkunden - ich hab Urlaub in meinem großen, sechs Monate dauernden Urlaub gemacht.
Zuerst waren wir in Palenque im Dschungel. Nach drei Tagen kehrten wir dann zurück in die Zivilisation. Nachts um halb zwölf nahmen wir von Palenque aus den Bus in Richtung Norden, nach Mérida. Wir fuhren die ganze Nacht und wurden nur ein Mal geweckt - von Soldaten, die an einem Grenzposten mit ihren Waffen in Händen den Bus durchsuchten nach was auch immer. Das war komisch.

Morgens gegen halb neun kamen wir in Mérida am Busbahnhof an. Um neun hatten wir unser Zimmer in einer sehr gemütlichen Jugendherberge mit schönem Innenhof und Hängematten und wussten noch nicht so richtig, was wir mit dem Tag anfangen sollten. Und plötzlich ging alles ganz schnell: Ein Touri-Guide fragte uns, ob wir nicht Lust hätten auf eine Schnorcheltour, in fünf Minuten würden sie abfahren und es seien noch zwei Plätze frei. Dann sind wir gerannt. Und innerhalb von fünf Minuten, nachdem wir unser Zimmer auf der Suche nach Badesachen in ein Schlachtfeld verwandelt hatten, saßen wir im Auto. Auf dem Weg zu den cenotes, den Höhlen, in denen wir schnorcheln wollten, erklärte uns unser guide alles mögliche über Mérida und die Halbinsel:

Mérida, einst die bedeutende Maya-Stadt T´Hó, ist die Hauptstadt des Staates Yucatán. Zwar haben die spanischen conquistadores nach der Eroberung Mexikos die Stadt und das Umland überformt, jedoch sind die kulturellen Wurzeln bis heute sichtbar: Auf dem Weg zu den cenotes fuhren wir durch Dörfer und vorbei an von Palmblättern bedeckten, weiß getünchten und nahezu ausschließlich mit Hängematten "möblierten" Maya-Häusern. Nach wie vor gibt es in und um Mérida eine relativ große autochthone Bevölkerung. Später an diesem Tag waren wir dann in einem Maya-Restaurant essen. Es gab ein typisches Gericht: Hähnchen mit einer speziellen Gewürzmischung, deren Namen ich mir keine zwei Sekunden lang merken kann und dazu Reis und Gemüse. Zunächst jedoch erfuhren wir noch mehr über die Gegend und die Entstehung der rund 3000 Höhlen, die es auf der Halbinsel gibt: Vor etwa 65 Millionen Jahren knallte ein Meteorit auf den heutigen Staat Yucatán und hinterließ einen Krater, dessen Durchmesser angeblich 284 km beträgt. Laut unserem guide (quien sabe, ob das stimmt, klingt jedenfalls spannend...) war das Gestein der weit verteilten Meteorit-Brocken schwerer als das Gestein der Halbinsel, daher sanken die Bruchstücke langsam ab und formten so das weitläufige Höhlen-System. Wie auch immer, es gibt über 3000 cenotes in Yucatán und viele davon sind kleine Paradiese für Schorchler und Taucher.

Die erste Höhle, in der wir waren, lag nicht weit unter der Erdoberfläche. Über eine Leiter kletterten wir hinunter. Und während aufgeschreckte Fledermäuse um unsere Köpfe schwirrten sprangen wir mit unserer Schnorchelausrüstung ins bodenlose Schwarze, das war vielleicht unheimlich. Aber nach kurzer Zeit hatten unsere Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt und mit einer Lampe konnten wir den Grund des Wasserbeckens und Fische sehen. Leider schwammen im Wasser überall Fledermaus-Exkremente, die mir einen Ausschlag am ganzen Körper beschert haben. Das war nicht so der Brüller.
Die zweite Höhle war offen und sehr schön, mit vielen Stalagmiten und Stalaktiten und Wurzeln, die durch die Decke bis ins Wasser reichten. An einer Seite war die Grotte laut unserem guide über 200m tief und der Beginn eines weit verzweigten Höhlen-Netzes. Auch das war mir unheimlich, da blieb ich lieber im Nichtschwimmerbereich...

Am nächsten Tag fuhren wir weiter nach Chichén Itza, die bekannteste und am besten erforschte Maya-Ruinen-Stadt. Ich hatte mich sehr darauf gefreut und wurde dann leider etwas enttäuscht: Chichén Itza war überfüllt mit Touristen und mit Händlern, die ihr Kunsthandwerk als das Beste der Welt anpriesen und die uns mit ihrem "One Dollar, one Dollar, it´s cheap"-Geschrei ziemlich auf die Nerven gingen. Chichén Itza ist vor allem auch bekannt für die mathematische Perfektion, mit der die Stadt errichtet wurde. Leider haben wir davon nichts gesehen, weil die Pyramiden alle abgesperrt waren. Wir konnten nicht hochsteigen und so fehlt uns leider der Gesamteindruck.

Nach zwei Stunden hatten wir genug und sind weiter gefahren nach Tulum. Und dort fanden wir uns in einer Postkarte wieder, jedenfalls kam es mir so vor. Doch was mir plötzlich mit gefühlten 40°C vor den Kopf knallte war keineswegs eine Postkarte, sondern volle, echte, türkisblaue, natürliche Natur. Wow! kann ich zu Tulum nur sagen - der Strand weißer als weiß, der Sand feiner als fein, das Wasser türkisgrüner als türkisgrün. Einfach schön. Und erst die Maya-Ruinen am Strand - weltweit einzigartig, das sind sie tatsächlich. Und mitten drin: Roland und ich am Strand faulenzend, im Hostel Spaghetti kochend, Kokosnüsse von der Palme pflückend, Kokosnüsse essend, einen Schnorcheltrip machend - ja der war besonders wow. Über Wasser das Strandparadies mit den herausragenden Ruinen, unter Wasser ein ganz eigenes Paradies: tierhandlungsschaufenstertauglich bunte Fische, Einsiedlerkrebse, Seesterne und Korallen, jede Menge Korallen. Vor der Küste Mexikos schlängelt sich das zweit größte Korallenriff der Welt durch den weißen Sand, klar, dass wir vom Schnorcheln sofort süchtig wurden und es immer wieder und wieder gemacht haben.

Nach Stunden um Stunden fröhlichen Faulenzens verliesen wir unser Strandparadies und machten uns auf den Weg zu den Ruinen. Wir mussten zehn Minuten laufen und diese entwickelten sich innerhalb kürzester Zeit zu wirklich verrückten zehn Minuten. Massen von Stechmücken fielen über uns her wie eine Meute, die Blut geleckt hat. Und das haben sie wohl auch, jedenfalls hatte mein Streuselkuchen-Stil sich nach der Mücken-Attacke auf Arme, Gesicht und Schultern ausgebreitet. Also sind wir gerannt und aus den gefühlten 40° wurden 45°. Mindestens. Für die Ruinenstadt hat es sich jedoch gelohnt (naja, das kann ich so voller Überzeugung jedenfalls jetzt sagen, wo es nicht mehr juckt). Doch weiß ich nicht, was mich mehr faszinierte, die wirklich schönen Ruinen - oder ihre Lage am vielleicht noch schöneren Meer...

Leider war außer den Moskitos noch etwas anderes ganz und gar nicht postkartenreif im paradiesischen Tulum: Unser Zimmer. Für 300 pesos die Nacht wohnten wir in einem Loch, fast so groß wie das Bett, das darin stand. Eben jenes Bett war angeschimmelt und über die widerlichen Laken soll hier lieber der Mantel des Schweigens gebreitet werden. Jedenfalls fanden wir drei Tage ausreichend und fuhren weiter nach Playa del Carmen. Dort hatten wir allerdings keine Lust zu verweilen. Am traumhaft schönen Strand drängte sich ein mettwurstfarbener Hotelklotz an den nächsten und viel zu viele Touristen auf viel zu wenig Raum fläzten am viel zu bebauten Strand - auf diese Art Sardinendosenurlaub verzichteten wir gerne und flohen per Fähre nach Cozumel.

Cozumel ist die größte Insel des Landes, rund sieben Kilometer vor der Küste Mexikos. Es war Hurricane-Zeit als wir dort waren und so hielten wir es für angebracht uns über das Wetter zu informieren. Leider kein leichtes Unterfangen in dieser Gegend. Zwar kommt in den Nachrichten jeden Abend der Wetterbericht, verlassen kann man sich jedoch darauf nicht. Einheimische haben uns gesagt, dass das Wetter in der Karibik Mexikos unmöglich vorauszusagen sei. Und im Wetterbericht bekommt der leichtgläubige Tourist gerne mal Bilder vom letzten Jahr gezeigt. (... Mexiko! ...) Nur auf die Hurricane-Vorhersage kann man sich verlassen, die Hurricanes werden auf ihrem langen Weg von der Küste Afrikas nach Mexiko beobachtet, ein ausgereiftes Frühwarnsystem schreckt zur Not alle auf und über ein ausgeklügeltes System kann wenn nötig die ganze gefährdete Zone evakuiert werden. Wir fanden, es sei gut das zu wissen. Gebraucht haben wir diese Infos jedoch zum Glück nicht - dafür hatten wir in diesen Tagen (statt des angesagten Sonnenscheins) jede Menge Regen...

Cozumel gilt als Urlaubs-Paradies mit mexikanischem Herzen und einer karibischen Seele. Mein erster Gedanke, als wir an Land gingen, war: Wir sind auf dem Mallorca der US-Amerikaner. Was wir schon in Playa del Carmen gefunden hatten, fanden wir hier wieder: Hotel an Hotel bis vor ans Meer. Geschenkshop an Geschenkshop und vor jedem Laden mindestens zwei Verkäufer, die ausschließlich dazu da sind "good price, good price" zu brüllen und Kunden in den Laden zu zerren. Alle Preise waren in US-Dollar!

Zum Glück hatten wir in Tulum von zwei netten Jungs einen Hoteltipp bekommen: Das Tamarindo - eine Oase hinter weiß getünchten Mauern mit einem grünen Garten, einer schönen Terrasse und einem noch schöneren Zimmer mit XXL-Bett, gelb-gefliestem Bad und einer kleinen Küche. Das war toll. Gleich nebenan war ein kleines Restaurant, ein winziger Familienbetrieb, in dem es sehr billig fangfrischen Fisch gab.

Am nächsten Tag stellten wir dann fest, dass man ohne Auto auf der Insel nicht viel machen kann - der einzige, vom Hotel aus zu Fuß erreichbare "Strand" war übersät mit Glasscherben und komischen Menschen. Unter Wasser war nahezu alles Leben längst abgestorben - vernichtet von Müll und Booten. Wir blieben dort nicht lang, sondern mieteten für umgerechnet 20 Euro für einen Tag einen alten, grauen Käfer, mit dem wir einen Erkundungstripp um die Insel unternahmen. Cozumel ist recht groß, fast das gesamte Inselinnere ist naturbelassen, wild, Urwald. Nur eine Straße führt aus der einzigen Stadt hinaus und um die Südhälfte der Insel herum, vorbei an Stränden, einer Rasta-Bar und den obligatorischen Hoteltrumms. Und vorbei an Mangroven-Wäldern - das hat mir besonders gut gefallen. Ich hatte noch nie Mangroven "in freier Wildbahn" gesehen und war ganz hin und weg, auch von den blauen und orangenen Mangroven-Krabben, die überall aus ihren Löchern schauten.

Cozumel gilt als berühmt für seine angeblich weltbekannten Korallenriffe. Nun, vermutlich liegen diese etwas vor der Küste, von den Stränden aus, an denen wir waren, kamen wir jedenfalls zu keinem Riff. Insgesamt war auch nicht viel mit Korallen - sei es, weil der Tourismus das Meer zu sehr belastet, sei es, weil der Wirbelsturm Wilma vor wenigen Jahren viele Riffe zerstörte. Obwohl unser Reiseführer etwas anderes sagte, fanden wir die schönsten Schorchelplätze keineswegs auf Cozumel. Dafür aber weite Wildnis und raue See, kantige Steinküsten und jede Menge Muscheln und tote Korallen am Strand. Es war wirklich schön und außerhalb der Stadt auch nicht mehr sehr touristisch. Und das Schönste waren die Schildkröten.

Überall in der Region kommen im Sommer Meeresschildkröten an die Strände, sie pflügen durch den Sand und vergraben ihre Eier. Diese gelten leider noch immer als Delikatesse und auch die kleinen Schildkröten selbst haben in den ersten Monaten relativ schlechte Überlebenschancen. Deshalb werden sie geschützt. Auf Cozumel haben Biologen zusammen mit Freiwilligen die frisch geschlüpften Schildkröten eingesammelt und sie in eine geschützte Bucht gebracht, wo sie das erste Jahr verbringen sollen, bevor sie in die Freiheit entlassen werden. Und Roland und ich konnten zusehen, wie sich ganz kleine Schildkrötenkinder aus ihren Eiern ins Freie kämpften und die ersten Schläge mit ihren Füßen, Flossen, wie immer das heißt, unternahmen. So was Schönes hab ich selten gesehen.

Am nächsten Abend haben wir in unserer Küche gekocht, die eigentlich in Anführungszeichen gesetzt werden müsste. Unsere "Küche" bestand hauptsächlich aus einer kleinen tragbaren Herdplatte, die schon zwei Jahrhundertwenden erlebt haben dürfte. Nichts desto trotz wollten wir kochen. Der Grund: Im Supermarkt hatten wir 1 kg Tintenfisch für umgerechnet 90 CENT (!) gekauft - das Gemüse und die Nudeln, die wir außerdem für das Rezept brauchten, kosteten weit mehr als das Doppelte.

Nach vier entspannten Nächten auf Cozumel brachen wir zur letzten Station unserer Reise auf: Isla Mujeres. Dort fanden wir nach zwei Nächten in einem wenig gemütlichen Zimmer mit einem noch weniger gemütlichen Bett ein nettes kleines Apartment mit separatem Schafzimmer, offener Küche, Bad und regelmäßigem Besuch von zwei Katzen - das Ganze in unmittelbarer Nähe des schönsten Strandes der Insel, des Playa Norte. Dieser war nicht weniger postkartentauglich als der Strand von Tulum: kristallklares, türkis schimmerndes Wasser, eine schattenspende Kokospalme an der nächsten, weißer Sand, ... toll. Auch hier hat Roland uns Kokosnüsse zum Mittagessen erobert. Das Gehopse und Steingeschmeiße meines heldenhaften Freundes trug sehr zur Belustigung der anderen Touris bei, die nicht einfallsreich genug waren, eine Kokosnuss aus drei Metern Höhe von der Palme zu schlagen und dann auch noch zu knacken. Einer fand das dermaßen witzig, der wollte sogar ein Video für YouTube über meinen Ritter der Kokosnuss drehen - aber der Mensch hatte ganz schnell ausgelacht, als wir Kokosnuss aßen und er nicht und seine neidische Frau ihn obendrein noch auffordernd anschaute...

Und dann ist noch was verrücktes passiert: ein kleiner Fisch war irgendwann zu mir geschwommen und blieb einfach da. Ich bin ein paar Meter geschwommen, weggelaufen, hab Wasser gespritzt und Sand aufgewirbelt - der kleine Fisch blieb immer an meiner Seite oder schwamm fröhlich um mich herum im Kreis. Mindestens eine Stunde lang ging das so. Der Kleine hielt mich für seine Mutter und hat Schutz gesucht oder was, keine Ahnung. Merkwürdig. Irgendwann ist Roland an den Strand um seine Schnorchebrille zu holen und unseren neuen Freund aus der Nähe zu betrachten und kaum hatte der Fisch Roland mit seiner giftgrünen Brille entdeckt schwamm er geradewegs auf ihn zu als hätte ihn sonstwas gestochen und erkundete Rolands Gesicht. Als ich später aus dem Wasser bin ist der Fisch fast mit bis an den Strand geschwommen, dann hat er sich Roland zugewandt, der noch im Wasser blieb, und ihn zu seinem neuen Freund erklärt. Dann sind beide fast eine weitere Stunde einträchtig zusammen geschwommen. Der Fisch war wirklich seltsam.

Einige Abende verbrachten wir am Playa Norte in einer Hollywood-Schaukel in sicherer Entfernung von der Hochhaus-Skyline von Cancun. Oder wir gingen in ein kleines Fischrestaurant an einem anderen Strand, wo wir, die nackten Füße im warmen Sand, vor der Kulisse von dunkelroten Sonnenuntergängen unter bananenblättergedeckten Dächern gegrillten Fisch nach Maya-Art aßen. An einem Abend ging Roland mit seiner Schnorchelbrille, einer Plastiktüte und einem Messer bewaffnet ins Wasser - auf Langusten Jagd. Er hatte deren Höhlen tagsüber schon ausgekundschaftet und konnte auch tatsächlich zwei aufspießen. Abends haben wir dann natürlich groß gekocht!

Ein Mal haben wir ein Golf-Cart mit offroad-Reifen gemietet und sind um die Insel gecruist. Isla Mujeres ist circa acht km lang und an manchen Stellen keine 200 Meter breit. Am Punta Sur, also an der Südspitze, hatten wir Aussicht auf ein atemberaubendes, stechend grünes Meer. Es gab dort auch ein Hotel, wir zahlten Eintritt und konnten uns dafür den ganzen Tag am Privat-Strand aufhalten. Das war der schönste Ort zum Schnorcheln: so viele Fische auf ein Mal, dass wir sie manchmal, wenn sie zu langsam waren, anfassen konnten. Wir schwammen mitten in Schwärmen von schillernd bunten Fischen und haben sogar zwei circe 40 cm lange Papagaienfische gesehen, Rochen, Krebse und seltsame Wesen, die aussahen wie Fische, die aber Beine hatten und sowas wie Flügel und die (vermutlich auf der Suche nach Essen) auf dem Meeresgrund jeden Stein umdrehten.

Später brauchte Roland dringend Kuchen. Also betraten wir eine pasteleria, in der ein etwa neunjähriger Junge gerade eine halbe Sahnetorte verdrückte. Auf meine Frage hin, was ein Stück Torte koste, überlegte der Junge kurz und presste dann verschmitzt zwischen zwei Bissen hervor: "30 pesos". Wir zahlten und der kleine Junge verabschiedete sich sehr schnell von uns. Am nächsten Tag kamen wir wieder. Diese Mal bediente der Vater des Jungen und siehe da: ein Stück Torte kostete plötzlich nur noch 20 pesos - der kleine kugelige Junge hatte uns doch tatsächlich ganz dreist abgezockt. Früh übt sich... Insgesamt zahlt man als offensichtlich Fremder eigentlich immer mehr, egal ob auf Märkten, bei Taxifahrten - wenn ich Mexikaner vorschicke um nach dem Preis zu fragen ist es so gut wie immer billiger...

An meinem Geburtstag sind wir auf eine Schildkrötenfarm gefahren - das war toll. Die Mitarbeiter der "Tortugranja" sammeln Schildkröteneier am Strand, die Kleinen schlüpfen dann auf der Farm und verbringen ein Jahr in Sicherheit, bevor sie in die Freiheit entlassen werden. Schön ist: etwa zwölf Jahre später, wenn aus den kleinen Flitzern geschlechtsreife Schildkröten geworden sind, kommen viele davon an die Strände der Tortugranja zurück, so dass auch ihre Nachfahren in geschützter Atmosphäre schlüpfen. Es war ein toller Nachmittag auf Isla Mujeres - aber leider auch der letzte. Am nächsten Tag ging unser Flug von Cancun zurück nach Puebla. Und als die Wolken über Puebla kurz aufrissen konnten wir von hoch oben die Lichter der Stadt sehen und den riesigen, rauchenden Schlund des majestätischen Popocatépetl. Das war der beeindruckende Abschluss einer beeindruckenden Reise.

Mittwoch, 29. Oktober 2008

Zwischen sprachlos und fast im MexiKOMA

Eines Tages lief ich die Straße entlang. Vor mir trottete ein Mexikaner so langsam wie Mexikaner nun mal meistens laufen. Ich hatte es eilig, denn von allen Professoren, die es an der BUAP gibt, ist ausgerechnet meiner einer, der um 10:05 Uhr die Türe zumacht und niemanden reinlässt, der mehr als fünf Minuten zu spät kommt. Ich überholte also den langsamen Mann. Aus Versehen stieß ich ihn dabei mit meiner Tasche woraufhin er mich anbrüllte: !Pinche gringa! (Pinche bedeutet soviel wie Küchenhilfe, wird aber ständig und für alles verwendet. Nach Aussagen der Mexikaner beschimpfen US-Amerikaner mexikanische Einwanderer als pinches, also beschimpfen die Mexikaner (vermeintliche) US-AmerikanerInnen auch so. Und gringa ist abwertend für US-Amerikanerin) Jedenfalls passiert mir das regelmäßig und es geht mir auf die Nerven. Also hab ich nichts weiter gesagt, als dass ich deutsch sei. Darauf der Mann: "Ay, disculpe, no lo sabía! Entschuldigung, das wusste ich nicht!"

Einige Tage später habe ich das einem mexikanischen Freund erzählt. Er lachte und sagte: "Que fuerte! Aber bei den Deutschen muss man auch aufpassen, die stecken einen sonst noch in ein Konzentrationslager!"

Und ich war sprachlos.

Mittwoch, 22. Oktober 2008

Der Beginn unserer Reise

"VIVA MÉXICO! VIVA! VIVA!" In der Nacht vom 15. auf den 16. September schallte dieser Schrei durch das ganze Land. Es war der Día de la Independencia, der Tag der Unabhängigkeit - DIE Party schlechthin. Schon Wochen vorher bereiteten sich alle vor, überall hörte man die Nationalhymne, überall wurden banderas, Flaggen, verkauft und jeder Zócalo wurde mit dem typisch mexikanisch kitschigen Schmuck verziert. Alle waren in Partylaune und ich ganz besonders, denn ich hatte noch einen weiteren Grund mich zu freuen: am 15. September kam Roland! Typisch deutsch feierte ich daher weniger Unabhängigkeit als vielmehr den Tag der Wiedervereinigung. Und gefeiert haben wir, aber richtig. Nach dem grita, also nachdem das ganze Land "Viva México! Viva! Viva!" gebrüllt hat, fuhren wir in eine Bar - die Party begann so gegen elf und endete um sieben Uhr morgens. Viva México! Viva! Viva!
Was mir auffiel war der extreme Nationalstolz, den die Mexikaner besonders in diesen Tagen an den Tag legten. Ich saß im Bus nach Mexiko City und fuhr vorbei an Hüttensiedlungen und slums, in denen die Menschen einfach gar nichts haben außer vielleicht ein Dach über dem Kopf. Und oft haben sie nicht mal das. Aber wer ein Dach hatte, der hatte auch eine mexikaische Fahne darauf gehisst. In einer solchen Siedlung stieg dann ein Mann zu, der Flaggen verkaufte. Er schaute mit einem etwas überheblichen Grinsen in mein so offensichtlich fremdländisches Gesicht (wobei er eine erstaunliche Ansammlung von schwarzen, abgestorbenen Zahnstummeln entblößte) und sagte mir er sei "orgullosamente mexicano", ein stolzer Mexikaner. Und ich kam nicht umhin mich zu fragen: "????? Wieso das denn? Warum bitte bist du denn stolz auf ein Land, das sich überhaupt nicht um dich kümmert, das dich und deine Kinder in Elend und Armut deinem Schicksal überlässt?" Wer in Mexiko arm geboren wird, der stirbt in der Regel auch arm. Es gibt keine wirklichen Hilfen vom Staat - wie auch, die Anzahl der Armen und das Ausmaß ihres Elends ist unüberschaubar. Vierzig Prozent der Mexikaner leben am Existenzminimum. Fast die Hälfte. Der Mindestlohn pro Tag beträgt 45 pesos, derzeit sind das etwa 2,60 Euro. Doch nirgends sah ich so viele Flaggen auf den Häusern wie in den slums von Puebla und Mexiko City, den meisten Nationalstolz sah ich bei den Ärmsten. Irgendwie finde ich das erschütternd, dass das Land ausgerechnet von den Menschen so sehr geliebt wird, die am wenigsten davon haben, die im Gegenteil Zurückweisung, Desinteresse, Leid und Elend erfahren.

Am Freitag darauf sind wir (Roland, Caro, Julia und ich) dann aufgebrochen zu unserer Reise in den Süden des Landes. Nach einer Nacht im Bus kamen wir an unserer ersten Station an: Palenque im Bundesstaat Chiapas, eine kleine Stadt in der Nähe zur Grenze nach Guatemala im tropischen Regenwald.

Wir fanden uns im Hotspot der alternativen Backpackerszene von Palenque wieder: El Panchán. Wir wohnten für umgerechnet fünf Euro pro Person/ Nacht in Chato´s cabanas mitten im Regenwald, Roland, Caro, Julia und ich. Durch El Panchán schlängelt sich ein kleiner Bach, über Brücken und schmale Wege kamen wir zu den einzeln stehenden cabanas, alle mehr oder weniger baufällig aber immer noch wasserdicht. Das war auch nötig: Bei rund 60% Luftfeuchtigkeit hat es jede Nacht geschüttet und zwar richtig heftig. Bis zum nächsten Morgen tropfte es von all den Pflanzen und jedesmal, wenn ich vor die Türe unserer cabana trat dachte ich: Es ist einfach unglaublich hier. Ich fühlte mich wie im Amazonas-Haus der Wilhelma, erst allmählich drang zu mir durch, was ich nach wie vor toll finde: wir waren tatsächlich mitten im jungle. Das war so schön, da gab es Pflanzen auf Pflanzen, die auf Pflanzen wachsen. Eine überbordende Natur, die in allen grün Tönen schillert und dazwischen die merkwürdigsten Früchte und die farbenprächtigsten Blüten. Und Tiere: Gottesanbeterinnen, Schimmeltiere, Geccos und Echsen, groß und klein und bunt - alles in seinem natürlichen Lebensraum was man sonst nur aus dem Zoo kennt. Toll! Leider hat sich eben jener Lebensraum auch auf unsere cabana erstreckt und so teilten wir vor allem Dusche und Bad mit allen möglichen Vielfüßlern. Die Geccos waren ja ganz nett, aber auf Termiten-Exkremeten, die fröhlich auf mich herunterrieselten während ich schlief, hätte ich dann doch verzichten können. Und auf diese schrecklichen Moskitos - auch heute noch, rund drei Wochen nach Palenque, sehen meine Beine aus wie ein Streuselkuchen. Trotz Autan Proteccion Plus Spray gegen tropische Mücken.

El Panchán ist das Paradies der Backpacker. Dort trifft sich, wer einen Rucksack und/ oder Rastas hat. El Panchán war auch so ziemlich der einzige Ort, an dem wir waren und an dem Roland mit seinem langen Haaren nicht sofort auffiel. Die Bevölkerung des sogenannten jungle palace war genauso bunt wie die Blüten. Abends sammelte sich alles im Restaurante Don Mucho´s, wo es zu meiner übergroßen Freude Spaghetti und Pizza gab. Angeblich sogar die besten Pizzen südlich von Neapel - keine Ahnung, mag sein, Caro, Julia und ich jedenfalls haben freudestrahlend jeden Abend Pasta oder Pizza bestellt - zu großen Erstaunen Rolands, der noch nicht so viele Tortillas intus hatte wie wir. Außerdem gab´s jeden Abend Live-Trommel-Panflöten-Musik und Feuershows. El Panchán ist im lonely planet beschrieben als "funky traveler´s hangout" - Volltreffer. Und an der Brücke, die zum Don Mucho´s führt, prangte ein Schild mit der Aufschrift: "Eintritt für Uniformierte und Betrunkene verboten". Polizisten müssen draußen bleiben, was für eine Ansage. Und das in Zeiten, in denen das ganze Land leise murrt (aufzuschreien traut sich hier glaub ich keiner so richtig) weil der congreso federal eine Reform auf den Weg bringen will oder wollte (so genau erfährt man das irgendwie nicht und jeder sagt was anderes), die es jedem Polizisten erlauben soll ohne jede Befugnis AUF VERDACHT in jedes Haus einzudringen und es zu durchsuchen. Das hätte Polizeistaatqualitäten und das in einem Land, in dem man ohnehin fast schon mehr Angst vor der Polizei als vor Verbrechern haben muss. Ich bin schlichtweg entsetzt und gespannt wie das weitergeht.

Am ersten Tag in Palenque haben wir die dortige Maya-Ruinenstadt besucht, die sich auf einer Rodungsinsel mitten im Dschungel erhebt. Wahnsinn, man tritt aus dem Wald und steht vor Zeugen einer Kultur, die vor 1500 Jahren das Land bevölkerte. Von den Maya ist so unglaublich viel übrig, nur der kleinste Teil der Ruinen ist erforscht, ausgegraben und zum schützenswerten Kulturerbe erklärt. Über mehrere Quadratkilometer hinweg finden sich weitere Ruinen, Wohn- und Geschäftshäuser, die nicht geschützt werden. Angeblich gibtsich in der Gegend um Palenque weit über tausend unerforschte Ruinen. Die Natur erobert sich langsam aber sicher alles zurück, die Überreste der Häuser und Tempel sind bemoost und es wachsen Bäume darauf. Sieht auch schön aus, aber alles zerfällt weil das Geld für Untersuchungen oder das Interesse daran fehlt.

Am nächsten Tag sind wir dann um sechs Uhr morgens zu einem Tagestrip nach Yaxchilan und Bonampak aufgebrochen, zwei weitere Maya-Tempelanlagen im Dschungel. Ein Busfahrer, der wirklich un poco loco war - jedenfalls was seinen Fahrstil anging -, hat uns und weitere backpacker abgeholt. Einer davon, Asier, war ein spanischer Archäologe und Maya-Eyperte, der derzeit in Mexiko City lebt und arbeitet und der die Rolle und Macht der Frauen in den Maya-Städten in und um Palenque untersucht. Wie perfekt ist das denn: Wir haben auf dem Weg zu Maya-Stätten einen Maya-Expterten kennen gelernt, der Maya spricht und lesen kann und der uns viel über seine Arbeit und die Ruinen erzählt hat. Nach einer Stunde Fahrt gab es dann Frühstück in einer bananenblätter gedeckten Hütte - Tortillas, Eier, Bohnenmus, Fleisch. Nach weiteren drei Stunden Raserei über ungeteerte Dschungelpisten kamen wir dann in der Nähe von Yaxchilan am Rio Usumacinto an, dem Grenzfluss, der Mexiko und Guatemala trennt. Dann ging es weiter mit kleinen Booten. Der Fluss war dank der Regenzeit völlig über die Ufer getreten, nach Aussage des Bootsführers war der río rund 50-60 m tief. Normalerweise sieht man hier Krokodile auf Sandbänken, doch leider war die Strömung viel zu stark und wir haben von unserer Nussschale aus keine gesehen. Eine dreiviertel Stunde saßen wir im Boot und spürten Baumspitzen von unten gegen den Bug schlagen.

Yaxchilan war von allen Ruinenstädten, die ich bis jetzt gesehen habe, die schönste. Wir kamen dort an und es war unsagbar heiß und die Luftfeuchtigkeit so hoch, dass es wirklich anstrengend war. Über kleine Wege gelangten wir dann durch den Dschungel zu den Tempeln. Und über uns in den Bäumen spielten Affen! Das war toll. Während wir fasziniert in die Baumkronen starrten spielten sie da mit ihren Jungen und kratzten sich ganz gemütlich.
Auch die Tempel von Yaxchilan waren ziemlich zerfallen und bemoost, was ihnen aber eine unwirkliche Schönheit verliehen hat. Alles wirkte ein bisschen wie im Märchen und mit dem Licht, das bündelweise durch die Baumkronen fiel, verwunschen.

Nach rund zwei Stunden viel zu schneller Fahrt mit Boot und Bus kamen wir dann in Bonampak an, eine weitere Tempelanlage mitten im Urwald. Im Gegensatz zu Yaxchilan und Palenque fand ich die trutzigen Ruinen etwas langweilig und es war definitiv zu heiß. Was mich beeindruckt hat, war wieder ein Mal die Geräuschkulisse des Urwalds, das entfernte Brüllen der Affen und die Weite - nachdem wir alle hundertwievielauchimmer Stufen hochgestiefelt sind sahen wir nur noch grün, Urwald soweit das Auge reicht. Viva México! Viva! Viva! Noch einen weiteren Tag haben wir die unglaubliche Atmosphäre des Waldes genossen, bevor Julia und Caro zurück nach Puebla und Roland und ich nach Mérida aufgebrochen sind.

Dienstag, 2. September 2008

In der Stadt der begrenzten Möglichkeiten

Vor zwei Wochen waren Caro, Julia und ich zum ersten Mal in Mexiko City. Wir haben für 8 Euro die Nacht in einem ganz netten Hotel in der Nähe vom Zócalo, dem Rathausplatz, gewohnt. Der Zócalo ist der zweit größte städtische Platz der Welt. Er ist einfach riesig, eine sechsspurige Straße führt um den ganzen inneren Platz herum. Sehr schöne, alte Gebäude im Kolonialstil säumen seinen Rand. Und überhaupt scheint die historische Altstadt sehr schön zu sein. Leider konnten wir nicht all zu viel sehen, weil auf dem Zócalo ein sehr großes umsonst-und-draußen-Rockkonzert stattfand und der ganze Bereich weitläufig abgesperrt und vollgestopft mit jungen Menschen war. Wir haben die Kathedrale besichtigt, die übrigens schief ist. Die Kathedrale wurde auf den Ruinen aztekischer Tempel gebaut, diese jedoch hatten die Azteken auf einem schwimmenden Untergrund errichtet – zu deren Zeit war der heutige Zócalo ein See. Heute ist er längst ausgetrocknet, das Fundament ist jedoch nicht überall stark genug um das Gewicht einer Kathedrale zu tragen. Daher „sinkt“ sie an einer Seite immer mehr ab – in etwa 100 Jahren wird es diese Kathedrale nicht mehr geben.

Wir waren auch im Palacio Nacional, in dem Bilder von Diego Rivera zu sehen sind. Diego Rivera gilt als Volksheld, überzeugter Kommunist und vor allem als einer der wichtigsten Künstler Lateinamerikas überhaupt. Gemeinsam mit seiner Frau Frida Kahlo hat er sein Leben und seine Arbeit dem Kampf für eine gerechtere Gesellschaft gewidmet. In seinen überdimensionalen Murales, Wandmalereien, setzte er sich kritisch mit politischen Themen auseinander und verarbeitete mit unglaublicher Liebe zum Detail neben persönlichen Motiven auch die Geschichte seines Landes. Nicht nur die Größe macht seine Bilder unvergesslich.

Hinter dem Palacio liegt ein ruhiger botanischer Garten, in dem Kakteen aller Art zu finden sind – die typische Vegetation Mexikos eben. Den Nachmittag haben wir auf einem Markt verbracht und abends sind wir zu Hans gefahren, meinem Kommilitonen und Radio-Kollegen aus Tübingen, und haben ihn und seine tolle Dachterrasse besucht. Ich hab mich voll gefreut, ich hatte Hans seit über einem Jahr nicht gesehen, so lange war er hier in Mexiko.

Insgesamt war der Tag in Mexiko Stadt schön und wir haben viel gesehen. Doch als wir die Stadt am Sonntagabend nach der Besichtigung der Pyramiden von Teotihuacan in Richtung Puebla verlassen hatten, war ich erleichtert, dass wir alles hinter uns lassen konnten. Mexiko City ist beides: faszinierend und erschreckend, anziehend und gleichzeitig abstoßend. Für ein Wochenende halte ich diese Stadt aus aber ich bin doch froh, dass ich nicht dort lebe. Diese Stadt ist einfach zu viel. Zu groß, zu laut, zu verrückt, zu arm und an jeder Ecke stinkt es anders. Und das ganze Wochenende über, ob auf dem Zócalo oder in der Metro, war ich angespannt und gestresst, ständig auf der Hut, ständig am über die Schulter schauen, ob nicht einer kommt und klaut.

Auf dem Rückweg fuhren wir durch slums. Fassungslos und mit einer ohnmächtigen Wut auf die Welt im Bauch saß ich im Bus und habe angeschaut, wie tausende, weltweit Millionen Menschen leben müssen: auf Müllkippen, mitten im Dreck, in windschiefen Wellblechbruchbuden (und es ist ja nicht so, dass es hier im Winter nicht kalt wäre, Mexiko City liegt über 2000 m hoch, im Winter sinken die Temperaturen nachts auf etwas über 0°C). Mexiko City ist die Stadt der begrenzten Möglichkeiten. Nicht nur für uns, weil wir uns dort nicht wirklich frei und entspannt bewegen konnten. So viele Menschen, so viele Kinder, die vom Leben nicht die geringste Chance bekommen. Und in Armut zu leben bedeutet hier in der Regel auch in Armut zu sterben.

Es gibt niemanden, der für Gerechtigkeit sorgt.

Das ist auch etwas, was ich in Mexiko City über dieses Land gelernt habe: Es gibt hier keinen Freund und Helfer, keine Instanz, die für Gerechtigkeit sorgt, keine wirklich unabhängige Justiz und kein Vertrauen in die Obrigkeit von Seiten der Bürger. Man stelle sich folgendes vor: Julia, Caro und ich liefen über den Zócalo. Uns kamen Polizisten entgegen. Die Gewehre geschultert marschierten sie mit ihren kugelsicheren Westen in zwei Reihen auf uns zu, vor uns teilten sich die Reihen und plötzlich waren wir umzingelt von Polizisten die anfingen zu grölen: „Oh, you are so beautiful, i love you, i love you (gesprochen: I luv yo), marry me, give me a kiss“ Ich dachte nur: Häh? Was ist denn jetzt los? Das ist doch die Polizei! Inzwischen weiß ich: Das ist ganz normal hier. Das heißt: normal ist das ja wohl nicht, aber gang und gäbe. Welcome to Mexico! Polizisten - immer die Waffe in Händen, immer in kugelsicherer Weste - pfeifen uns hinterher, einer hat mir sogar mal auf den Hintern gehauen. Und wenn man Pech hat fordern sie einfach so 200 Pesos für irgendein angebliches Vergehen, das man gar nicht begangen hat. Hier wird Polizist wer sonst nichts findet, die Ausbildung ist schlecht, der Job völlig unterbezahlt und die ganze Institution ist infiltriert vom organisierten Verbrechen. „México es un país supercorrupto hat meine Professorin heute im Politik-Seminar gesagt. Mexiko als “korrupt” zu bezeichnen reicht wohl längst nicht mehr aus, ein Superlativ muss her: supercorrupto. Mexiko, das zweitgrößte Land des Kontinents, ist heute der korrupteste Staat Lateinamerikas. So vieles stimmt nicht in diesem Land. Aber was soll auch werden, wenn die, die das Verbrechen bekämpfen und für Gerechtigkeit sorgen sollten, selbst die schlimmsten sind?

Ich habe mich mit einem Kommilitonen unterhalten. Er fragte, wie ich als erste Welt-Bürger das Essen hier vertrage (mit einem süffisanten Grinsen hervorgebrachte Fragen nach darmfloralen Problemen gehören hier zur Kennenlernkonversation zwischen Mexikanern und Europäern). Ich habe ihn, politisch korrekt wie ich das gelernt habe, darauf hingewiesen, dass er so nicht reden sollte. „Es gibt nur eine Welt hab´ ich gesagt. Darauf er: „So ein Quatsch. Das glaubt ihr in der ersten Welt wirklich, oder? So könnt auch nur ihr reden. Schau dich doch um!“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

Immer wieder denke ich: Mexiko ist einfach krass. So bunt, fröhlich, chaotisch, schön und voller Lebensenergie. So arm, verdreckt, korrupt, unsicher und verzweifelt. Und ich habe einfach noch kein Gefühl für dieses Land. Auf dem Heimweg von Mexiko City ist uns wieder so was passiert: Wir sind in einen Bus eingestiegen und haben uns extra noch beim Busfahrer erkundigt, ob er zur Jura Fakultät fährt, denn da müssen wir immer aussteigen. „Si, si claro!“ hat er gesagt. Nach einer Stunde waren wir am völlig falschen Ende der Stadt und haben den Busfahrer noch mal gefragt, ob er auch wirklich zur Jura Fakultät fährt. „Si, si claro“. Irgendwann waren wir dann in einem ziemlich heruntergekommenen Hochhausviertel. Dort hat der Busfahrer gemeint, wir müssten jetzt aussteigen. Mitten im sonstwo. Er hatte nie vor, zur Jura Fakultät zu fahren, sondern wollte einfach unser Geld. Dass der Campus die offizielle Endhaltestelle dieser Buslinie ist, hat ihn nicht interessiert. Dann haben wir den nächsten Bus genommen, der Busfahrer hat auch gesagt, er fährt zum Campus. Gar nichts hat er. In irgendeinem Viertel hat er uns raus gelassen, keine Ahnung wo, und wir konnten den Weg nach Hause suchen und über eine halbe Stunde laufen.

Darauf hin haben wir beschlossen, dass es allerhöchste Zeit war für eine Pause, eine Auszeit vom Leben in der Stadt. Allerhöchste Zeit für einen Rückzug ins Grüne.

Cuetzalan - un pueblo mágico

„Como México no hay dos!“ Diesen Satz habe ich hier schon so oft gehört. „Ein Land wie Mexiko gibt es kein zweites Mal!“ Richtig. Aber in diesem einzigartigen Land gibt es viele verschiedene Mexikos – das der Reichen und das der Armen; das Mexiko der indígenas und das der Nachfahren der spanischen Eroberer; das der zu groß geratenen Städte und das Mexiko des völlig unterentwickelten ländlichen Raumes. Und eben dieses Mexiko haben wir letztes Wochenende kennengelernt.

Julia, Caro und ich sind mit zwei Freunden nach Cuetzalan gefahren, ein kleines indigenes Dorf in den Bergen, vier Autostunden von Puebla entfernt. Im Touristen-Prospekt steht, Cuetzalan sei ein pueblo mágico, ein magisches Dorf. Warum weiß ich nicht genau, sei es wegen der indigenen Bevölkerung, die überlieferte Bräuche bis heute lebt. Oder sei es, weil das Dorf einfach wunderschön ist, arm zwar und mit einem sehr morbiden Charme doch schlicht unwiderstehlich. Oder sei es wegen der Natur, die einfach unglaublich ist: Grün soweit das Auge reicht. Und was für grün – tropische Farne mit Blättern die fast so groß sind wie ich, Kaffeepflanzen, Lilien aller Art, Bananenstauden, Kakteen, wunderschön und überdimensional groß. Cuetzalan ist ein unglaublich charmantes, verschlafenes Dorf mitten im Urwald.

Und so friedlich und ruhig es unter der Woche auch zu geht, der Sonntag ist der Tag des fröhlichen Lärms, der Farben, der Gerüche: Markttag. Im ganzen Ortskern verkaufen indigene Händler ihre regionalen Produkte. Die Frauen tragen weiße, bunt bestickte Röcke und Kleider, die Männer weiße Hemden und Hosen, Ledersandalen, Sombreros. Alles geht durcheinander, Straßenhunde und Hühner rennen einem zwischen die Füße, Händler preisen lautstark ihre Waren an - Blumen, frisches Obst und Gemüse, getrocknete Chilis, Gewürze, Kräuter, Kunsthandwerk, traditionelle Kleidung. Und über manch einem Metzgersstand hängt ein ausgebluteter Schweinekopf und blickt einen mit seinen toten Augen an. Das Fleisch wird nicht gekühlt.
Auf dem Markt habe ich überrascht festgestellt, dass viele Menschen gar nicht spanisch gesprochen haben. Die meisten Einwohner Cuetzalans können zwar spanisch, doch die Sprache der Straße ist Náhuatl, die Sprache der "Ureinwohner" Mexikos, die noch vor den Mayas und Azteken das Land besiedelt hatten. Ich wusste nicht, dass das tatsächlich noch gesprochen wird.

Das Wochenende in Cuetzalan war mein erster Aufenthalt im tropischen Urwald und ich war völlig begeistert von der Schönheit und Üppigkeit der Natur, von der Größe der Pflanzen, der Vielfalt der Vegetation, dem Vogelgezwitscher und all den anderen Geräuschen des Waldes, den Wasserfällen und kleinen Bächen, den Pyramiden. Und ich werde das bestimmt nicht vergessen – genauso wie ich das, was ich an menschlichen Schicksalen gesehen habe, nicht vergessen werde.
Ein Beispiel: Vor dem Eingang zu den Pyramiden Cuetzalans saßen viele Frauen und Kinder, die Früchte und Kunsthandwerk verkauft oder gebettelt haben. Als wir den Park der Pyramiden betreten haben, hab ich im Vorbeigehen gehört wie eine Frau zur anderen sagte: „Hol ihn.“ Als wir das Gelände dann wieder verließen wartete vor dem Eingang ein völlig verdrecktes, schwer behindertes Kind. Der Junge konnte nicht sprechen, er hat uns aber mit Gestik und Mimik angebettelt. Wir haben ihm Geld gegeben. Zu spät habe ich begriffen, was da gespielt wurde, dass die Frauen den Jungen extra wegen uns geholt, ihn benutzt haben, ihn vielleicht sogar absichtlich so verdreckt haben rumlaufen lassen, um das Mitgefühl von uns weißen, reichen Touristen zu erwecken. Tja, und wir haben unwissentlich das ganze unterstützt indem wir dem Jungen Geld gegeben haben. Die alte zahnlose Frau, die sich neben mich gedrängt hat und mir permanent ihren Korb mit Armbändern in die Nieren gestoßen hat, habe ich ignoriert nachdem sie auch auf das dritte „no, gracias“ hin nicht wegging.

Als wir dann im Auto wegfuhren habe ich gesehen, wie ein Mädchen einen Strick um den Oberkörper des Jungen legte und ihn an einem Baum festband. Vielleicht solange, bis die nächsten Touristen vorbeikamen. Wer weiß.

Freitag, 29. August 2008

Teotihuacan - Stätte der Götter


Ungefähr 40 km nordöstlich von Mexiko City liegt die Ruinenstadt Teotihuacan. Wir waren dort und schwer beeindruckt.
Die Stadt war etwa von 100 v. Chr. bis 700 n. Chr. bewohnt. Ihr Name ist ein Wort in der Náhuatl-Sprache und bedeutet soviel wie "Stätte der Götter". In Teotihuacan, das weiß mein Reiseführer, gab es Systeme zur versorgung mit Grundwasser, dem Sammeln von Regenwasser sowie ein Abwassersystem. Vor über 2000 Jahren!!!

Außerdem gab es in der Stadt Kunsthandwerk, Märkte, Straßen, Paläste, Wohnanlagen und jede Menge Tempel. Was den Niedergang der Zivilation verursacht hat ist bis heute nicht bekannt, jedenfalls sind nur noch einige der großen Bauwerke zu sehen, vor allem Pyramiden. Die Religion muss eine sehr wichtige Rolle im Leben der Azteken eingenommen haben. Es gab viele verschiedene Gottheiten, die alle im Zusammenhang mit Wasser, Erde und Fruchtbarkeit standen und somit Ausdruck der Grundbedürfnisse der Bewohner Teotihuacans waren.

Längs durch die ganze Ruinenstadt zieht sich über eine Länge von mehr als 2 km die sogenannte "Straße der Toten". Vermutlich heißt sie so wegen der vielen kleinen, oben abgeflachten Pyramiden, die als Altäre für verschiedene Gottheiten dienten. Hier wurden Menschenopfer dargebracht, die den jeweiligen Gott milde stimmen sollten.

Rechts von der Straße der Toten befindet sich die größte Pyramide Teotihuacans, die Sonnenpyramide. Sie hat eine Grundfläche von 200 x 200 m und ist 66 m hoch. Über wirklich monumentale Treppen kann man die Pyramide besteigen - mit viel Ausdauer und guten Beinmuskeln.

Im Norden der Stadt erhebt sich die Mondpyramide, das zweit größte Bauwerk. Bereits um 0 bis 200 n. Chr. hat sie das gleiche Profil besessen wie heute. Auf der Vorderseite befindet sich eine große Plattform, die für Zeremonien zu Ehren der Wassergöttin Chalchiutlicue diente, die in Verbindung mit dem Mond stand. Ich möchte wirklich nicht wissen was oder besser: wen die Azteken dort geopfert haben!

Mittwoch, 20. August 2008

Ohne Kommentar

Am Freitag waren wir in einer Disco. Javier, unser Fahrer, war nüchtern und damit eine Ausnahme, sehr viele fahren hier betrunken. Aber wir haben Javier gesagt, wenn er betrunken fährt gehen wir nie wieder mit ihm weg. Das hat ihn anscheinend beeindruckt.
Sein Bruder aber, der alleine in einem anderen Auto heim gefahren ist, war ordentlich voll, hat am Steuer telefoniert - und wurde prompt von der Polizei angehalten. Aber kein Problem, für 200 Pesos (etwa 13 Euro) hätten sie ihn weiter fahren lassen, ohne Konsequenzen, ohne Sanktionen. Aber Javiers Bruder ist für solche Fälle gerüstet, er hat immer die Visitenkarte einer bekannten Lokalpolitikerin im Geldbeutel. Die hat er den Polizisten unter die Nase gehalten und ganz dreist behauptet, die Politikerin sei seine Tante. Deshalb durfte er für 100 Pesos weiterfahren. Javier sagte dazu nur: "La justicia es barrato en México - Die Justiz ist billig in Mexiko." Korruption an allen Ecken und Enden.

Mittwoch, 13. August 2008

Das Abenteuer "Universität"

Es ist die zweite Woche an der Uni und Zeit mal wieder was zu schreiben:

Ich kann die drei Kurse besuchen, die ich mir ausgesucht hatte, die Einschreibung war kein Problem. Wir haben an der Uni sogar unseren "eigenen" Rechtsanwalt, der alles mit der Einschreibung und der Registrierung im nationalen Ausländerregister regelt.
Letzten Mittwoch um 10 Uhr hatte ich meinen ersten Kurs, oder besser: Letzten Mittwoch hätte ich meinen ersten Kurs haben sollen. Teorias del cambio social - Theorien über den sozialen Wandel. Ich war pünktlich um 10 Uhr da . Als einzige. Gegen 5 nach 10 kam ein Junge, den hab ich gefragt, ob der Kurs aber schon in diesem Raum stattfindet. "Si, si claro." Also hab ich gewartet. Um viertel vor 11 war der Raum dann so langsam voll mit Studenten, der Professor kam mit knapp einer Stunde Verspätung um kurz vor 11. Und alles, was er sagte, war: "Disculpe, mir ist zu heiß heute, ich brauche dringend einen Kaffee. Schreibt mir bitte eure e-mail-Adressen auf, ich schick euch das Kursprogramm, alles weitere besprechen wir am Montag." Und das war´s.
Inzwischen ist der Kurs nicht mehr so lässig, wir müssen sehr viel lesen und der Professor fragt jede Stunde ab oder macht Überraschungs-Lektüre-Tests. Hilfe. Und er kontrolliert nicht nur, ob wir die jeweilige Lektüre gelesen haben, sondern auch, ob wir Zeitung gelesen haben. Jeden Morgen fragt er einen oder eine aus dem Kurs, welche Nachricht ihm/ ihr heute besonders interessant erschien. Ziemlich stressig aber gut und interessant, ich glaube ich werde einiges lernen.
Nach wie vor fallen wir auf dem Campus auf wie ein bunter Hund. Ein Junge der in einem Kurs neben mir saß hat mich angesprochen und gefragt: "Du bist Marie, oder?" Ich hatte davor nie mit ihm geredet. Und zu Caro hat einer gesagt: "Du hast doch noch zwei andere deutsche Freundinnen, stimmt´s?" Wir sind ein bisschen berühmt hier - ein komisches Gefühl.

In den anderen beiden Kursen, die ich besuche, sind wir jeweils nur vier Studenten (im Kurs Politische Kultur Mexikos sind´s sogar nur Caro und ich und zwei Jungs, die auch nicht von der Uni hier sind...) Diese Quasi-Einzelbetreuung ist ganz gut, vor allem können die Professoren mehr auf mich oder auf uns eingehen und manches auch zwei Mal erklären, wenn es nötig ist. Allerdings kann man leider auch nicht in der Masse untergehen... Manchmal wünsch´ ich mir, ich wäre ein bisschen unsichtbarer, wenigstens ein bisschen. Vorlesungen auf spanisch zu hören finde ich super anstrengend, ich muss die ganze Zeit voll aufmerksam sein und wenn ich mal nicht mit komme versteh ich gar nichts mehr. Die Leute reden sehr schnell hier und in den großen Räumen mit vier Studenten hallt es zu allem Überfluss auch noch, das macht das Verstehen nicht gerade einfacher.
Selbst in meinem Kurs Teorias del cambio social mit circa 30 StudentInnen kann ich einfach nicht in der Menge untergehen. Wie sagte der Professor heute morgen: "Oh je, ich kann mir eure vielen Namen einfach nicht merken... Ah, doch, natürlich, einen Namen weiß ich ganz bestimmt: Maria-Christin, was sagt der Text über..." Hmpf. Immer ich.
Das Beste ist auch, dass er ständig von deutschen Soziologen redet. Aufgrund der (wirklich miserablen) Aussprache verstehe ich die Namen aber leider kaum jemals gleich. Dann schaut der Prof mich immer auffordernd an und will wissen, wie man den Namen richtig ausspricht und ich muss fieberhaft überlegen, welchen Soziologen er jetzt wohl wieder gemeint hat...
Insgesamt gefällt mir das Lernsystem an der Uni ganz gut. Jeder Kurs findet hier 6stündig statt, entweder an drei Tagen jeweils zwei Stunden oder an zwei Tagen drei Stunden. So komme ich mit meinen drei Kursen schon auf 18 Wochenstunden - weit mehr als in Deutschland. Dort, das ist jedenfalls mein Eindruck, weiß man nach einem beendeten Seminar nur über das eigene Referats- und Hausarbeitsthema so richtig viel. Das ist hier anders. Hier beschäftigen wir uns viel (zeit-)intensiver mit jedem Thema - klar, jeder Kurs nimmt ja auch drei Mal so viel Zeit in Anspruch. Deshalb haben wir hier auch Zeit zum diskutieren. Und die Profs legen Wert darauf, dass viel und angeregt diskutiert wird, immer wieder betonen sie, wie wichtig der Meinungsaustausch gerade für Politologen und Soziologen ist. Eine gepflegte Streit- und Dikussionskultur fehlt mir in Deutschland. Ich finde die Diskussionen in den Kursen sehr aufschlussreich und interessant, mein Problem ist nur: Ich kann mich oft nicht beteiligen. Ich hab´ zwar ne Menge Ideen, aber leider alle auf deutsch. Spanisches Fachvokabular für Soziologie oder Politikwissenschaft lernt man leider nicht in Sprachkursen. Das fehlt mir hier. Und Wörter wie "Erderwärmung" kennt nicht mal mein Wörterbuch...
Ganz schlimm ist es, wenn ich müde bin. Es gab hier schon Tage, an denen ich dachte: Oh, Hilfe, ich versteh gar nichts, ich kann keinen Piep Spanisch. An anderen Tagen dagegen hab ich nahezu keine Probleme mit der Sprache. Nur leider hab ich das Gefühl, meine Sprachkenntnisse sind Tagesformabhängig. Das ist ziemlich ungünstig und frustrierend. Aber so insgesamt klappt`s ganz gut mit spanisch, ich verstehe nur nach wie vor mehr als ich sagen kann - ich hoffe, das wird noch besser, sonst geh ich hier am Ende doch noch unter...

Sonntag, 10. August 2008

Über eine Pyramide, zwei Discos, wenig Uni und jede Menge Landesküche



Es ist 8 Uhr morgens, ich bin todmüde und würde gern noch schlafen, kann aber nicht. Der Gasflaschenverkäufer dreht in seinem kleinen Lastauto seine Runden um den Block. Mit lauter Technomusik kündigt er sein Kommen an. Jeden morgen punkt 8. Heute ist bereits der siebte Tag, an dem ich ihm gern sein Megaphon geklaut hätte. Seit sieben Tagen wohne ich jetzt schon hier in meinem Zimmer, seit bald zwei Wochen bin ich in Mexiko. Es kommt mir viel länger vor, aber gleichzeitig sind die ersten Tage sehr schnell vergangen. Und ich komme nicht umhin mich zu fragen: Wie lang ist eigentlich ein halbes Jahr? Ich meine gefühlt?

Bisher fühle ich mich, als wäre ich einfach im Urlaub. Dass ich für die nächste Zeit hier wirklich leben werde ist irgendwie noch nicht so richtig zu mir durchgedrungen. Nach wie vor ist vieles neu, vieles ungewohnt und alles anders als daheim. Aber jedesmal, wenn wir es geschafft haben mit dem Bus oder einem Taxi wieder an "unserer" Straßenecke anzukommen denke ich: da vorne bin ich zuhause. So langsam gewöhnen wir uns ein und selbst mein Magen kann mit der neuen Situation so langsam umgehen. Deshalb haben Caro, Julia und ich mit der Abhärtung begonnen: Inzwischen putzen wir Zähne mit Leitungswasser, so wie die Mexikaner auch.

Und wir haben einen kulinarischen Streifzug durch die Landesküche begonnen. Derzeit ist hier Chiles en Nogada-Zeit. Das schmeckt mal lecker. Eine sehr große, scharfe grüne Chili, paniert und gefüllt mit Fleisch und Früchten, übergossen mit Walnusssoße und bestreut mit Granatapfelkernen und Petersilie. Chiles en Nogada gibt es nur im August. Mole Poblano dagegen gibt es das ganze Jahr. Auch dieses für Puebla ganz typische Gericht haben wir inzwischen probiert. Jeder Staat hat hier seine eigene Mole, Mole Poblano (die Mole Pueblas) ist eine sämige Soße aus Schokolade und Chili, die mit Hühnchenfleisch und Reis serviert wird. Auch sehr lecker. Es ist eine Mischung, die ganz typisch ist für Mexiko: Süß mit salzig. Außerdem haben wir noch Grillen gegessen, getrocknete und gewürzte echte Grillen. Hat Überwindung gekostet, schmeckt aber auch gut. Und das Obst ist einfach der Hammer. Mangos, zum Beispiel, haben viel mehr Geschmack als in Deutschland. Aber das Beste sind Tunas, grüne Kaktusfrüchte. Die fasst man am besten nur mit einer Plastiktüte an weil sich die winzigen haarigen Stacheln sonst in der Haut festkrallen. Sehr unangenehm, wie ich inzwischen weiß, ich hab´s natürlich gleich ausprobiert. Man lernt hier nie aus.

Wir gewöhnen uns an Mexiko und so langsam gewöhnen sich auch die Mexikaner hier in der CU, in der ciudad universitaria, an uns. Ich glaube, es hat sich hier im Viertel rumgesprochen, dass drei deutsche Studentinnen da sind. Ich war in einem Laden, in dem ich vorher noch nie war und der Verkäufer begrüßte mich mit: "Hola, la alemana, bienvenido!" Der wusste schon, dass ich deutsch bin. Oft glauben die Leute, wie wären US-Amerikanerinnen und dann denken sie, die gringas verstehen sowieso kein Spanisch. Wenn wir sagen, wir sind Deutsche, sind die Menschen oft gleich freundlicher. Nach wie vor schauen uns aber alle auf der Straße hinterher und die Männer sind ziemlich respektlos. Gestern bin ich die Straße langgelaufen und ein Taxifahrer hat neben mir abgebremst und ist im Schritttempo neben mir her gefahren. Er: "Quieres Taxi?" - Ich: "No, gracias, no necesito un Taxi." - Er: "Quieres Taxi?" - Ich: "No." - Er: "Quieres novio? (novio = fester Freund) - Ich: "No!" Hmpf.

Aber wir haben auch schon sehr viele nette Bekanntschaften gemacht, der Gemüsehändler hat sich zum Beispiel sehr darüber gefreut, dass in diesem Semester mehr Ausländer an der BUAP studieren, er findet kulturellen Austausch gut und wichtig. Wir haben auch echt schon einige andere Studenten kennengelernt, zum Beispiel zwei Kolumbianerinnen, zwei Deutsche Jungs und einen Haufen Mexikaner.

Gestern waren wir mit einem Mexikaner und einer sehr netten Freundin von ihm in Cholula, einem Vorort von Puebla. Dort gibt es die größte Pyramide der Welt, zumindest was die Grundfläche angeht. Vom Volumen her ist die Pirámide de Cholula die größte Lateinamerikas. Von außen sieht man nicht viel, sieht aus wie ein grüner Hügel. Aber Alejandra, das mexikanische Mädchen, das mit uns da war, studiert Tourismus und konnte uns einiges erzählen:
Die Grundfläche der Paramide beträg circa 450 x 450 m. Insgesamt gibt es rund acht km Tunnel, sehr enge Tunnel, zum Glück bin ich nur 1,70 m groß. Ablaufen kann man davon nur etwa 10 Minuten. Das reicht aber auch, die Tunnel sind so eng und niedrig, dass ich es auch nicht viel länger ausgehalten hätte. Die Pyramide stammt - wenn ich mich richtig erinnere - aus dem vierten Jahrhundert, sie wurde sieben mal überbaut. Heute steht eine Kirche auf ihrem Gipfel. An einer Seite wurde die Konstruktion freigelegt - sehr beeindruckend!

In der Nähe der Pyramide haben wir auch den Tanz der fliegenden Männer gesehen. Vier (normalerweise fünf) Männer, voladores genannt, fliegen dabei an einem sich abrollenden Seil kopfüber um einen rund 30 m hohen Pfahl. Ich muss noch mal nachlesen, was das genau ist, auf jeden Fall aber ist das ein sehr, sehr altes Ritual das verschiedene Bedeutungen haben kann. Alejandra hat mir erklärt, dass die Männer zu Ehren der Götter fliegen. Sie symbolisieren die vier Elemente, Erde, Luft, Feuer und Wasser. Nachdem sie 13 Mal um den Pfahl gefolgen sind erreichen sie die Erde. Insgesamt ergibt die Anzahl der Drehungen der Männer um den Pfahl und um die eigene Achse 52, eine magische Zahl. Traditionell fliegen die Männer an hohen Feiertagen - was wir gesehen haben war eine Touri-Attraktion. Aber trotzdem toll anzusehen.
Am Freitag waren wir mit Yaneli, ihren Brüdern und deren Freunden in einer sehr mexikanischen Disco. Das war ein sehr lustiger Abend, wir haben in dieser waschechten mexikanischen Disco so richtig waschechte Mexikaner kennengelernt - nach der aktuellen Mode mit fast bis zum Bauchnabel aufgeknöpften Hemden, zurückgegelten Haaren, Cowboy-Stiefeln, Goldketten und den obligatorischen Sombreros. Allesamt super Salsa-Tänzer. Der personifizierte machismo, allerdings nur was das Aussehen angeht, die Jungs waren richtig nett und natürlich haben sie uns vor allem und jedem beschützt. Wir sollten nicht mal alleine auf´s Klo gehen. Einer hat uns hingebracht, vor der Tür gewartet und wieder zum Tisch zurück begleitet. Das macht man so in Mexiko, sagten die Jungs, alles andere wäre zu gefährlich.
Am Samstag waren wir in einer anderen Disco, auch zum Salsa tanzen. Das war ein super schnikes Ding. Wir kamen um halb eins nachts da an und zum Glück hatten wir mal wieder den Ausländer-Blondie-Bonus, sonst wären wir in Turnschuhen gar nicht reingekommen. Und drinnen fanden wir uns im letzten Jahrhundert wieder, jedenfalls was die Musik angeht. In dieser super modernen, mega In-Disco lief doch tatsächlich Backstreetboys, Britney Spears, Abba, Shakira. Ich hab gedacht, mich tritt ein Pferd. Später, nachdem der Laden gegen halb zwei voll war, hat dann eine Live-Band Salsa gespielt. Das war toll, wir haben auch getanzt. Danach lief Techno, dann Raggaeton und zwischendurch die Filmmusik von Grease. Was für eine Mischung.

Wir haben so viel unternommen und so wenig geschlafen, wir hatten noch gar keine Zeit uns so wirklich um Uni-Sachen zu kümmern. Macht aber nichts - während hier sämtliche Austauschstudenten ankommen macht das Dezernat für Internationale Beziehungen in der letzten Woche vor Semesterbeginn Urlaub. Welcome to Mexiko. Heute fängt die Uni an, frühestens morgen, wahrscheinlich erst am Donnerstag können wir uns einschreiben. Naja, machts nichts, wir fühlen und schon ganz mexikanisch und gehen es gechillt an.

Heute waren wir an der Uni um Vorlesungsverzeichnisse zu holen und mal zu schauen, wo was ist. Und, Hilfe! Ich bin eine Jahrmarktsattraktion, ein exotisches Tier, ein Alien oder was. Die Studenten kucken, als hätten sie noch nie einen Ausländer gesehen. Caro, Julia und ich sind in die Cafeteria gelaufen und plötzlich war´s ganz still und fast alle haben uns angeschaut, überhaupt schauen uns alle nach. Das ist mal komisch. Aber den zwei blonden deutschen Jungs scheint´s zu gefallen - so viele Mädels haben ihnen wahrscheinlich noch nie hinterhergeschaut.
Morgen versuchen wir mal, ob wir uns einschreiben können. Und vielleicht können wir sogar die Stundenpläne machen. Ich möchte gerne einen Spanischkurs und drei Vorlesungen besuchen: `Stadtsoziologie´, ´Theorien des sozialen Wandels´ und `Politische Kultur Mexikos`. Mal schauen, ob´s klappt.
Wir machen auch die ersten Reise-Pläne: Nächstes oder übernächstes Wochenende fahren wir nach Mexiko City, einen Kommilitonen von mir aus Tübingen besuchen. Ansonsten fühlen wir uns mexikanisch und gehen alles locker an - überraschen kann uns im Moment sowieso nicht mehr viel.