Dienstag, 2. September 2008

In der Stadt der begrenzten Möglichkeiten

Vor zwei Wochen waren Caro, Julia und ich zum ersten Mal in Mexiko City. Wir haben für 8 Euro die Nacht in einem ganz netten Hotel in der Nähe vom Zócalo, dem Rathausplatz, gewohnt. Der Zócalo ist der zweit größte städtische Platz der Welt. Er ist einfach riesig, eine sechsspurige Straße führt um den ganzen inneren Platz herum. Sehr schöne, alte Gebäude im Kolonialstil säumen seinen Rand. Und überhaupt scheint die historische Altstadt sehr schön zu sein. Leider konnten wir nicht all zu viel sehen, weil auf dem Zócalo ein sehr großes umsonst-und-draußen-Rockkonzert stattfand und der ganze Bereich weitläufig abgesperrt und vollgestopft mit jungen Menschen war. Wir haben die Kathedrale besichtigt, die übrigens schief ist. Die Kathedrale wurde auf den Ruinen aztekischer Tempel gebaut, diese jedoch hatten die Azteken auf einem schwimmenden Untergrund errichtet – zu deren Zeit war der heutige Zócalo ein See. Heute ist er längst ausgetrocknet, das Fundament ist jedoch nicht überall stark genug um das Gewicht einer Kathedrale zu tragen. Daher „sinkt“ sie an einer Seite immer mehr ab – in etwa 100 Jahren wird es diese Kathedrale nicht mehr geben.

Wir waren auch im Palacio Nacional, in dem Bilder von Diego Rivera zu sehen sind. Diego Rivera gilt als Volksheld, überzeugter Kommunist und vor allem als einer der wichtigsten Künstler Lateinamerikas überhaupt. Gemeinsam mit seiner Frau Frida Kahlo hat er sein Leben und seine Arbeit dem Kampf für eine gerechtere Gesellschaft gewidmet. In seinen überdimensionalen Murales, Wandmalereien, setzte er sich kritisch mit politischen Themen auseinander und verarbeitete mit unglaublicher Liebe zum Detail neben persönlichen Motiven auch die Geschichte seines Landes. Nicht nur die Größe macht seine Bilder unvergesslich.

Hinter dem Palacio liegt ein ruhiger botanischer Garten, in dem Kakteen aller Art zu finden sind – die typische Vegetation Mexikos eben. Den Nachmittag haben wir auf einem Markt verbracht und abends sind wir zu Hans gefahren, meinem Kommilitonen und Radio-Kollegen aus Tübingen, und haben ihn und seine tolle Dachterrasse besucht. Ich hab mich voll gefreut, ich hatte Hans seit über einem Jahr nicht gesehen, so lange war er hier in Mexiko.

Insgesamt war der Tag in Mexiko Stadt schön und wir haben viel gesehen. Doch als wir die Stadt am Sonntagabend nach der Besichtigung der Pyramiden von Teotihuacan in Richtung Puebla verlassen hatten, war ich erleichtert, dass wir alles hinter uns lassen konnten. Mexiko City ist beides: faszinierend und erschreckend, anziehend und gleichzeitig abstoßend. Für ein Wochenende halte ich diese Stadt aus aber ich bin doch froh, dass ich nicht dort lebe. Diese Stadt ist einfach zu viel. Zu groß, zu laut, zu verrückt, zu arm und an jeder Ecke stinkt es anders. Und das ganze Wochenende über, ob auf dem Zócalo oder in der Metro, war ich angespannt und gestresst, ständig auf der Hut, ständig am über die Schulter schauen, ob nicht einer kommt und klaut.

Auf dem Rückweg fuhren wir durch slums. Fassungslos und mit einer ohnmächtigen Wut auf die Welt im Bauch saß ich im Bus und habe angeschaut, wie tausende, weltweit Millionen Menschen leben müssen: auf Müllkippen, mitten im Dreck, in windschiefen Wellblechbruchbuden (und es ist ja nicht so, dass es hier im Winter nicht kalt wäre, Mexiko City liegt über 2000 m hoch, im Winter sinken die Temperaturen nachts auf etwas über 0°C). Mexiko City ist die Stadt der begrenzten Möglichkeiten. Nicht nur für uns, weil wir uns dort nicht wirklich frei und entspannt bewegen konnten. So viele Menschen, so viele Kinder, die vom Leben nicht die geringste Chance bekommen. Und in Armut zu leben bedeutet hier in der Regel auch in Armut zu sterben.

Es gibt niemanden, der für Gerechtigkeit sorgt.

Das ist auch etwas, was ich in Mexiko City über dieses Land gelernt habe: Es gibt hier keinen Freund und Helfer, keine Instanz, die für Gerechtigkeit sorgt, keine wirklich unabhängige Justiz und kein Vertrauen in die Obrigkeit von Seiten der Bürger. Man stelle sich folgendes vor: Julia, Caro und ich liefen über den Zócalo. Uns kamen Polizisten entgegen. Die Gewehre geschultert marschierten sie mit ihren kugelsicheren Westen in zwei Reihen auf uns zu, vor uns teilten sich die Reihen und plötzlich waren wir umzingelt von Polizisten die anfingen zu grölen: „Oh, you are so beautiful, i love you, i love you (gesprochen: I luv yo), marry me, give me a kiss“ Ich dachte nur: Häh? Was ist denn jetzt los? Das ist doch die Polizei! Inzwischen weiß ich: Das ist ganz normal hier. Das heißt: normal ist das ja wohl nicht, aber gang und gäbe. Welcome to Mexico! Polizisten - immer die Waffe in Händen, immer in kugelsicherer Weste - pfeifen uns hinterher, einer hat mir sogar mal auf den Hintern gehauen. Und wenn man Pech hat fordern sie einfach so 200 Pesos für irgendein angebliches Vergehen, das man gar nicht begangen hat. Hier wird Polizist wer sonst nichts findet, die Ausbildung ist schlecht, der Job völlig unterbezahlt und die ganze Institution ist infiltriert vom organisierten Verbrechen. „México es un país supercorrupto hat meine Professorin heute im Politik-Seminar gesagt. Mexiko als “korrupt” zu bezeichnen reicht wohl längst nicht mehr aus, ein Superlativ muss her: supercorrupto. Mexiko, das zweitgrößte Land des Kontinents, ist heute der korrupteste Staat Lateinamerikas. So vieles stimmt nicht in diesem Land. Aber was soll auch werden, wenn die, die das Verbrechen bekämpfen und für Gerechtigkeit sorgen sollten, selbst die schlimmsten sind?

Ich habe mich mit einem Kommilitonen unterhalten. Er fragte, wie ich als erste Welt-Bürger das Essen hier vertrage (mit einem süffisanten Grinsen hervorgebrachte Fragen nach darmfloralen Problemen gehören hier zur Kennenlernkonversation zwischen Mexikanern und Europäern). Ich habe ihn, politisch korrekt wie ich das gelernt habe, darauf hingewiesen, dass er so nicht reden sollte. „Es gibt nur eine Welt hab´ ich gesagt. Darauf er: „So ein Quatsch. Das glaubt ihr in der ersten Welt wirklich, oder? So könnt auch nur ihr reden. Schau dich doch um!“ Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte.

Immer wieder denke ich: Mexiko ist einfach krass. So bunt, fröhlich, chaotisch, schön und voller Lebensenergie. So arm, verdreckt, korrupt, unsicher und verzweifelt. Und ich habe einfach noch kein Gefühl für dieses Land. Auf dem Heimweg von Mexiko City ist uns wieder so was passiert: Wir sind in einen Bus eingestiegen und haben uns extra noch beim Busfahrer erkundigt, ob er zur Jura Fakultät fährt, denn da müssen wir immer aussteigen. „Si, si claro!“ hat er gesagt. Nach einer Stunde waren wir am völlig falschen Ende der Stadt und haben den Busfahrer noch mal gefragt, ob er auch wirklich zur Jura Fakultät fährt. „Si, si claro“. Irgendwann waren wir dann in einem ziemlich heruntergekommenen Hochhausviertel. Dort hat der Busfahrer gemeint, wir müssten jetzt aussteigen. Mitten im sonstwo. Er hatte nie vor, zur Jura Fakultät zu fahren, sondern wollte einfach unser Geld. Dass der Campus die offizielle Endhaltestelle dieser Buslinie ist, hat ihn nicht interessiert. Dann haben wir den nächsten Bus genommen, der Busfahrer hat auch gesagt, er fährt zum Campus. Gar nichts hat er. In irgendeinem Viertel hat er uns raus gelassen, keine Ahnung wo, und wir konnten den Weg nach Hause suchen und über eine halbe Stunde laufen.

Darauf hin haben wir beschlossen, dass es allerhöchste Zeit war für eine Pause, eine Auszeit vom Leben in der Stadt. Allerhöchste Zeit für einen Rückzug ins Grüne.

Cuetzalan - un pueblo mágico

„Como México no hay dos!“ Diesen Satz habe ich hier schon so oft gehört. „Ein Land wie Mexiko gibt es kein zweites Mal!“ Richtig. Aber in diesem einzigartigen Land gibt es viele verschiedene Mexikos – das der Reichen und das der Armen; das Mexiko der indígenas und das der Nachfahren der spanischen Eroberer; das der zu groß geratenen Städte und das Mexiko des völlig unterentwickelten ländlichen Raumes. Und eben dieses Mexiko haben wir letztes Wochenende kennengelernt.

Julia, Caro und ich sind mit zwei Freunden nach Cuetzalan gefahren, ein kleines indigenes Dorf in den Bergen, vier Autostunden von Puebla entfernt. Im Touristen-Prospekt steht, Cuetzalan sei ein pueblo mágico, ein magisches Dorf. Warum weiß ich nicht genau, sei es wegen der indigenen Bevölkerung, die überlieferte Bräuche bis heute lebt. Oder sei es, weil das Dorf einfach wunderschön ist, arm zwar und mit einem sehr morbiden Charme doch schlicht unwiderstehlich. Oder sei es wegen der Natur, die einfach unglaublich ist: Grün soweit das Auge reicht. Und was für grün – tropische Farne mit Blättern die fast so groß sind wie ich, Kaffeepflanzen, Lilien aller Art, Bananenstauden, Kakteen, wunderschön und überdimensional groß. Cuetzalan ist ein unglaublich charmantes, verschlafenes Dorf mitten im Urwald.

Und so friedlich und ruhig es unter der Woche auch zu geht, der Sonntag ist der Tag des fröhlichen Lärms, der Farben, der Gerüche: Markttag. Im ganzen Ortskern verkaufen indigene Händler ihre regionalen Produkte. Die Frauen tragen weiße, bunt bestickte Röcke und Kleider, die Männer weiße Hemden und Hosen, Ledersandalen, Sombreros. Alles geht durcheinander, Straßenhunde und Hühner rennen einem zwischen die Füße, Händler preisen lautstark ihre Waren an - Blumen, frisches Obst und Gemüse, getrocknete Chilis, Gewürze, Kräuter, Kunsthandwerk, traditionelle Kleidung. Und über manch einem Metzgersstand hängt ein ausgebluteter Schweinekopf und blickt einen mit seinen toten Augen an. Das Fleisch wird nicht gekühlt.
Auf dem Markt habe ich überrascht festgestellt, dass viele Menschen gar nicht spanisch gesprochen haben. Die meisten Einwohner Cuetzalans können zwar spanisch, doch die Sprache der Straße ist Náhuatl, die Sprache der "Ureinwohner" Mexikos, die noch vor den Mayas und Azteken das Land besiedelt hatten. Ich wusste nicht, dass das tatsächlich noch gesprochen wird.

Das Wochenende in Cuetzalan war mein erster Aufenthalt im tropischen Urwald und ich war völlig begeistert von der Schönheit und Üppigkeit der Natur, von der Größe der Pflanzen, der Vielfalt der Vegetation, dem Vogelgezwitscher und all den anderen Geräuschen des Waldes, den Wasserfällen und kleinen Bächen, den Pyramiden. Und ich werde das bestimmt nicht vergessen – genauso wie ich das, was ich an menschlichen Schicksalen gesehen habe, nicht vergessen werde.
Ein Beispiel: Vor dem Eingang zu den Pyramiden Cuetzalans saßen viele Frauen und Kinder, die Früchte und Kunsthandwerk verkauft oder gebettelt haben. Als wir den Park der Pyramiden betreten haben, hab ich im Vorbeigehen gehört wie eine Frau zur anderen sagte: „Hol ihn.“ Als wir das Gelände dann wieder verließen wartete vor dem Eingang ein völlig verdrecktes, schwer behindertes Kind. Der Junge konnte nicht sprechen, er hat uns aber mit Gestik und Mimik angebettelt. Wir haben ihm Geld gegeben. Zu spät habe ich begriffen, was da gespielt wurde, dass die Frauen den Jungen extra wegen uns geholt, ihn benutzt haben, ihn vielleicht sogar absichtlich so verdreckt haben rumlaufen lassen, um das Mitgefühl von uns weißen, reichen Touristen zu erwecken. Tja, und wir haben unwissentlich das ganze unterstützt indem wir dem Jungen Geld gegeben haben. Die alte zahnlose Frau, die sich neben mich gedrängt hat und mir permanent ihren Korb mit Armbändern in die Nieren gestoßen hat, habe ich ignoriert nachdem sie auch auf das dritte „no, gracias“ hin nicht wegging.

Als wir dann im Auto wegfuhren habe ich gesehen, wie ein Mädchen einen Strick um den Oberkörper des Jungen legte und ihn an einem Baum festband. Vielleicht solange, bis die nächsten Touristen vorbeikamen. Wer weiß.