Samstag, 15. November 2008

Wenn ganz Mexiko zum Leben erwacht - Oder: Der Día de los Muertos

Der Mexikaner liebt es zu feiern, er liebt die Fiestas. Alles ist ein Grund, sich zu treffen; jeder Vorwand berechtigt, zu feiern. "An wenigen Orten der Welt kann man ein Schauspiel erleben, das dem einer religiösen Fiesta in Mexiko gleichkommt: mit ihren heftigen, spröden, reinen Farben, Tänzen, Zeremonien, Feuerwerken, ungewöhnlichen Trachten und unerschöpflichen Kaskaden von Überraschungen, mit ihren Früchten, Süßigkeiten und allerlei Gegenständen, die man in solchen Tagen auf Plätzen und Märkten verkauft." So beschreibt Octavio Paz die Fiestas in seinem eigenen Land.

Auf einer mexikanischen Fiesta wird jeder Begriff von Ordnung im Tequila ertränkt und alles wirbelt durcheinander - Farben, Geschrei, Gelächter, Schimpfwörter, ... Es geht um Teilhabe, darum, dass die Zeit stehen bleibt und in der Gegenwart verharrt - und sei es nur für eine Nacht. Vergangenheit und Zukunft werden eins oder sind vielleicht auch einerlei - was zählt ist der Moment. "Die Teilnehmer der Fiesta", so Octavio Paz, "verlassen ihren sozialen und menschlichen Rang und werden zu lebendigen, wenn auch vergänglichen Rollenträgern."

Und ich hatte die Chance, an einer mexikanischen Fiesta teilzunehmen, die für mich die bisher ungewöhnlichste aller Fiestas war: Der Día de los Muertos. Der deutsche Feiertag "Allerseelen" wird am gleichen Tag gefeiert und doch könnte das Feiern nicht unterschiedlicher sein. Dort viel grau in grau, windgeschützte Kerzen auf kalten Friedhöfen, andächtiges Lauschen der Messe, Feierlichkeit, Ruhe, Besinnlichkeit - hier in Mexiko Mariachi auf dem Friedhof, Blumenmeere, fröhliches Durcheinander. Singend und Bier trinkend stehen die mexikanischen Familien vor überreich geschmückten Gräbern, manche sind traurig, die meisten nicht. Lachen schallt über den Friedhof, kein kleines verstohlenes Lachen, nein, viele Menschen haben Spaß. Und ich bin fasziniert, denn ganz ehrlich: Wann lacht sich schon mal einer ungeniert auf dem Friedhof schlapp? Allerseelen verbinde ich mit Stille und Einkehr. Also, wenn ich überhaupt irgendetwas damit verbinde. Allerseelen war für mich nie ein bedeutendes Fest. Doch hier ist es genau das: Eine Fiesta, auf die der Mexikaner sich vorbereitet, auf die hingearbeitet wird. Es ist eine ganz besondere Fiesta, eine, die erwartet wird - und zwar schon von den Kleinsten. Die Mexikaner haben eine grundlegend andere Vorstellung vom Tod als wir Deutschen.

Die mexikanische Einstellung zum Tod hat eine lange Tradition. Schon die alten Völker (Olmeken, Maya, Tolteken, Azteken) beschäftigten sich intensiv damit. Für sie war der Tod nicht so unbedingt wie für uns heute. Er war kein Ende an sich, sondern eine Phase im unendlichen Kreislauf von Leben, Sterben und Wiederauferstehung. Erst der eindringende Katholizismus hat diese Vorstellung überformt und Mexiko radikal verändert. Doch so sehr sich die "alte" und "neue" Religion auch unterschieden - beide Haltungen haben etwas gemeinsam: Der Tod bedeutet neues Leben - irgendwann -, er ist ein Durchgang in eine andere Zeitlichkeit. Leben und Tod, - darauf weist Octavio Paz hin -, sind nicht autonom, niemals zu trennen, sondern zwei Seiten einer Medaille. Das Eine existiert nicht ohne das Andere.

Vor diesem Hintergrund scheint es gar nicht so verwunderlich, dass in der Vorstellung vom Tod wenigstens ein Teil des alten Glaubens die conquista des Katholizismus überlebt hat - bis heute! Und während in vielen modernen Industriegesellschaften das Leben voranschreitet als gäbe es den Tod überhaupt nicht, geht der Mexikaner damit um - auf seine ganz eigene, mexikanisch bunte, traurige und gleichzeitig fröhliche Art und Weise.


Der Tod ist im mexikanischen Alltag sehr präsent. Er ist furchtbar, wenn er eintritt; traurig in der Phase der Trauer; Ende des irdischen Lebens und doch nicht das Ende von allem. Der Mexikaner hat keine Angst. Im Gegenteil: er foppt den Tod, hänselt ihn, spielt damit, lacht ihn aus. Und im Oktober lässt er ihn Einzug halten in Häuser und Geschäfte. Dann finden sich an jeder Ecke Skelette, Totenköpfe aus Zucker, Särge aus Schokolade mit Skeletten darin, die Tequilaflaschen in der Hand halten oder eine Zigarette - der Tod ist süß, das soll auf diese Weise veranschaulicht werden. Der Tod ist süß und die Geister der Toten sind keine Schreckgespenster - im Gegenteil: Lebende und Toten stehen in gutem Kontakt. Die Verbindung bricht in der mexikanischen Vorstellung nie wirklich ab: Jeder kann hin und wieder zur Seele eines Verstorbenen Kontakt aufnehmen. Und ein Mal im Jahr erwacht ganz Mexiko wieder zum Leben - in den Tagen des Día de Los Muertos. Und der Ausdruck "GANZ Mexiko" ist hier auch ganz wörtlich zu verstehen. Denn ein Mal im Jahr, in den Tagen um den ersten November, kehren die Seelen der Toten zurück.

Und das wird gefeiert: An der Uni hatten wir ab Mittwoch keine Vorlesungen mehr - stattdessen gab es Altar-Wettbewerbe auf dem Campus unter dem Motto `Wer macht den schönsten Altar?` Auch Montag und Dienstag hatten wir unifrei. Da war der Día de los Muertos zwar längst rum - aber wie gesagt: Der Mexikaner liebt das Feiern. Und wenn ein Feiertag auf´s Wochenende fällt, dann - so steht es in der Verträgen der Professoren - wird eben an den Wochentage darauf gefeiert und alle haben frei. Viva México! Viva! Viva!


Die Mexikaner machen ein Volksfest aus Allerseelen - (Jahr-)Märkte auf den Straßen, Musik auf den Friedhöfen, Festessen in den Häusern. Es sind höchst lebhafte Tage: einer für tote Kinder, einer für Unfallopfer, einer für alle Toten, ... Die Einstellung der Mexikaner zum Tod und zu den Toten äußert sich in diesen Tagen in jahrhundertealten Ritualen:
Wir waren in Huaquechula, einem kleinen, unterentwickelten Dorf, etwa zwei Busstunden von Puebla entfernt. Dort ist sind Pferde wirklich nohc Transportmittel und der Día de los Muertos wird sehr traditionell gefeiert. Die orangefarbenen Blütenblätter, die vor den Eingängen der Häuser verstreut werden, weisen nicht nur den Seelen der Toten den Weg. Viele Familien rücken die Möbel zur Seite, öffnen ihre Häuser und geben den Blick frei auf eigens für diese Fiesta errichtete Altäre, mit denen sie ihren Verstorbenen gedenken und über die sie ihren Toten den Weg zurück nach Hause eröffnen. Jeder ist eingeladen einzutreten und zu verweilen. Für uns gab es viel zu sehen: In Huaquechula waren die Altäre sehr traditionell, mit viel weißem Stoff, Engelchen, langen Kerzen. In Puebla sahen wir auch ganz andere Altäre in der Casa de la Cultura, im Haus der Kultur. Dort waren der Gestaltung keine Grenze gesetzt: traditionelle Altäre fanden sich neben modernen. Errichtet waren sie für die unterschiedlichsten Menschen. Es gab Altäre für Azteken, für den Kriegsgott, für die ersten Telefonisten Mexikos, für Schauspieler, Musiker, Komponisten, für Sanitärer, für die Opfer des Studentenmassakers vom 2. Oktober 1968, für Papst Johannes Paul den II., für Emilio Zapata, für Pixel, für entführte Frauen und für viele mehr. Gemein war allen Altären eines: Das Essen, das darauf angerichtet war. Die Familien stellen Gerichte für die Toten bereit, meist das Lieblingsessen der Verstorbenen, aber auch Früchte, Süßigkeiten, Zigaretten, Bier, Tequila, ... Wenn die Lebenden später das Essen essen stellt sich eine Verbindung zur Seele der Verstorbenen her. In Huaquechula gab es dann noch Essen für alle. Jeder, der in ein Haus kam, um den Altar zu besichtigen, wurde eingeladen zu bleiben. In den Hinterhöfen waren große Tafeln errichtet und jeder bekam etwas zu essen.


Viele Familien sparen das ganze Jahr über, nur um in diesen Tagen einen Altar errichten zu können und das ganze Dorf und alle Zugereisten zum Essen einzuladen. Das Bild dieser Fiesta ist gezeichnet vom Übermaß - an Früchten, Broten, an weißem Stoff und an Blumen, vor allem an Blumen. Es scheint eine rituelle Verschwendung von Gütern zu sein, die die Familien mühevoll das ganze Jahr angesammelt haben. Es ist vielleicht Verschwendung und doch kann ich nicht schreiben, es sei Vergeudung. Octavio Paz: "Ja man kann sozusagen an der Zahl und am Aufwand unserer Feste unsere Armut ermessen. Die reichen Länder haben ihrer nur wenige. Es fehlt ihnen an Zeit und an Stimmung und außerdem sind sie gar nicht notwendig. [...] Doch wie könnte ein armer Mexikaner ohne diese zwei, drei Fiestas jährlich leben, die sein Elend und seine Sorgen aufwiegen. Es ist der einzige Luxus."

Am Sonntag waren wir auf dem Panteón Municipal, dem städtischen Friedhof Pueblas. Bereits am Freitag haben Caro, Yaneli und ich den Friedhof zum ersten Mal besichtigt. Und was wir sahen war schön. Nichts ist da mit deutscher Ordentlichkeit und nichts in Reih und Glied: Es herrscht ein Durcheinander von individuellen Gräbern, manche reich verzierte kleine Schlösser, andere nicht mehr als ein Erdhügel, auf dem alte Blechdosen als Blumenvasen stehen. In vielen Gräbern liegen mehrere Menschen, bis zu acht vor einander in die Erde gerammte Kreuze habe ich gezählt. Es war schön. Wir haben den Menschen bei ihren Vorbereitungen zugeschaut und waren am Sonntag also auf Blumenteppiche gefasst - nicht jedoch auf einen großen Markt und soooooo viel Andrang. Vor den Toren des Friedhofs hatten viele Händler ihre Stände aufgebaut. Es gab einfach alles: Blumen, illegal gebrannte CDs (CDs piratas genannt), Kleidung, Süßigkeiten und jede Menge typisches Straßenessen. Als Caro und ich nach ausgiebigem Schauen und Probieren den Friedhof betreten wollten staunten wir nicht schlecht: Ein- und Auslass wurde geregelt, so viel war da los. Gleich hinter dem Eingang prangte ein überdimensionales Schild mit der Aufschrift: "Alkohol und Essen verboten". Darunter fand sich ein Stand der Stadt an dem Wasser ausgeschenkt wurde - und Bier. Überall waren Menschen dabei zu putzen, Berge von Blumen zu schleppen, Gräber zu schmücken und teilweise neu zu streichen. Familien standen um die Gräber - manche andächtig, andere grölend vor Lachen. Caro und ich waren in all dem Treiben die einzigen offensichtlichen Ausländer. Doch zum ersten Mal fielen wir nicht auf. Die Menschen waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Niemand hat uns beachtet. Und so konnten wir still teilhaben und eine richtig mexikanische Fiesta erleben, die irgendwie gewöhnungsbedürftig, jedoch rein und authentisch war - auf jeden Fall merkwürdig.


"An wenigen Orten der Welt kann man ein Schauspiel erleben, das dem einer religiösen Fiesta in Mexiko gleich kommt."
Ich denke Octavio Paz hat recht. Und ich liebe die mexikanischen Fiestas, ihre Gerüche, ihren Lärm, ihre Farben, das fröhlich-aufgekratzte Chaos. Ich schaue mit dem Blick einer Fremden, für mich ist alles neu - und gerade in diesen Tagen schien mir manches gewöhnungsbedürftig. Ich werde immer wieder überrascht. Während des Día de Los Muertos waren es vor allem meine eigenen Gedanken über den Tod, die mich überraschten. Der Mexikaner geht ganz anders damit um, als ich es bisher kannte. Und vielleicht - das ist meine Meinung - vielleicht hat er den besseren Weg gewählt, Meilen entfernt vom Wegsperren des einen Gedankens, der sich dauerhaft niemals und aus keinem Leben wegsperren lässt. Sterben scheint einfacher zu sein in Mexiko. Und mir fiel etwas ein, was ich versuchen werde, für immer zu behalten: Der Tod ist gar nicht so schrecklich, weil er so ist - sondern weil wir ihn dazu machen.

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