Mittwoch, 21. Januar 2009

Gedanken zum Abschied

Mein Aufenthalt in Mexiko neigt sich dem Ende zu und ich sitze mal wieder zwischen den Stühlen. Ich freue mich auf zuhause, würde gleichzeitig aber auch gerne noch bleiben. Ich möchte meinen Aufenthalt nicht verlängern und doch auch nicht beenden. Doch es ist in Ordnung, jetzt zu gehen, denn ich bin irgendwie fertig hier. Ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte und alles gemacht, was ich machen wollte. Ich habe die zweitgrößte Metropolregion der Welt kennengelernt und winzige Dörfer, in denen warmes Wasser Luxus ist und Pferde noch Transportmittel sind. Ich war im Dschungel und in der Wüste, habe wunderschöne Strände gesehen und heruntergekommene Straßenzüge. Und ich hatte sechs Monate lang den aufregendsten Nachbarn der Welt: Den aktiven Vulkan Popocatépetl. Und jetzt freue ich mich auf zuhause.

Doch ich kann nicht nach Deutschland fahren und erzählen: Mexiko ist nur toll. Das könnte ich vielleicht, wäre ich hier nur oberflächlich gereist oder hätte ich hier mit Scheuklappen zwischen den Mauern meines Denkens gelebt. Doch ich habe mir Brücken gebaut und mich eingelassen auf dieses Land mit seinen tiefen Farben, Gerüchen, Geräuschen, seinen unterschiedlichen Gesichtern, seiner Vielfalt in der Einheit und seiner einheitlichen Vielfalt, seinem Chaos, diesem Wirbel, der alles mitreist und doch immer wieder alles beim Alten lässt. Mexiko ist nicht mehr nur in meinem Kopf. Es ist auch in meinem Herzen. Nicht mehr nur in meinem Mund, sondern auch in meiner Seele (und war oft genug in meinem Darmtrakt...) Mexiko ist mir vertraut geworden, fast eine zweite Heimat und doch nicht ganz - noch immer fühle ich mich zu fremd oder sehe zu sehr so aus.

Ich habe versucht, nicht nur die Oberfläche mit meinem Blick abzutasten. Und nachdem ich nun so vieles zum ersten Mal gesehen habe, werde ich nach Hause fahren und hoffentlich dort auch vieles zum ersten Mal sehen, woran ich schon tausende Male vorbei gegangen bin.

Oye, México, estás incre. Te voy a extranar.

Dienstag, 20. Januar 2009

Mi querido México

Mexiko zu entdecken bedeutet, durch eine Vielfalt von unterschiedlichsten Landschaften zu reisen, Wüste zu erleben und ewiges Eis auf den Gipfeln der Vulkane, Dschungel und tropische Strände, modernste Stadtteile und unterentwickelte Dörfer und nicht zuletzt ein kulturelles Erbe, das seinesgleichen sucht - alles vereint in einer einzigartigen Flora und Fauna. Und man spürt hier so viel Leben, so viel Ausgelassenheit, so viel Freude, so viel Energie. Mexiko ist einzigartig und die Mexikaner sind sich dessen bewusst. Nicht selten hörte ich hier den Satz: "México es un otro mundo" - "Mexiko ist eine andere Welt, ist unvergleichlich". Und sie haben Recht: Mexiko ist eine andere Welt und es ist unvergleichlich - doch leider nicht nur im positiven Sinne. Keine Region dieser Welt ist so ungleich wie Lateinamerika und speziell Mexiko. Nirgendwo anders ist das Gefälle zwischen Arm und Reich so enorm. Die Schere der Ungleichheit klafft nicht nur zwischen Stadt und Land. Gerade auch innerhalb der Städte gibt es ein ausgeprägtes Gefälle zwischen extremer Armut und perversem Reichtum. In Mexico City, zum Beispiel, gibt es viele Mexico Cities: Moderne, hochentwickelte Viertel und großer Reichtum finden sich hier. Und dann (da sollte man allerdings auf keinen Fall hin gehen) gibt es Viertel, in denen Menschen auf Müllhalden leben und ein paar Pesos verdienen, indem sie Müll sortieren, wenn er angefahren wird. Mexiko ist ein Schwellenland. Das bedeutet, es ist ein Land, das in vielen Gegenden noch immer Entwicklungsland ist - vor allem in Staaten, die indigen geprägt sind (wie zum Beispiel Chiapas). In anderen Regionen ist Mexiko jedoch längst Industrieland (in Puebla, zum Beispiel).

Aus der Spannung zwischen Armut und Reichtum entsteht Kriminalität. Mexico City gilt heute als eine der gefährlichsten Städte der Welt. In einem SWR 1 podcast vom 30. August 2008 liefert SWR-Korrespondent Michael Castritius, der in Mexico City lebt, Erklärungen: Vor allem Jugendliche in den slums, so Michael Castritius, sehen einerseits, dass das Leben ihnen keine Perspektiven bietet. Sie sehen das Elend ihrer Eltern und ihr eigenes und blicken in eine Zukunft ohne Hoffnung auf ein besseres Leben. Gleichzeitig haben sie immer mehr Zugang zu Informationen, aus Fernsehen und Internet erfahren sie vom Reichtum, den es in ihrem Land gibt. Sie begreifen, dass schicke Autos und Goldketten nicht nur das sind, was Rapper in ihren Liedern besingen - sondern Teil der Realität der Reichen. Das provoziert Aggression. Die Jugendlichen wollen ihren Teil vom Kuchen einfordern und das nicht selten auf brutalste Art.

Mexiko ist heute die Metropole mit den meisten Entführungen weltweit. Man spricht von einer richtigen Entführungs-Industrie - sowohl was durchgeführte Entführungen angeht als auch vorgetäuschte. Zum Beispiel bekommen Familien einen Anruf, am anderen Ende der Leitung weint ein Kind und jemand sagt ihnen: "Wir haben ihre Tochter". Die Anrufer hoffen darauf, dass die Familien tatsächlich eine Tochter haben, die gerade im Kino ist oder sonstwie nicht erreichbar. Und sie fordern wenig Geld, relativ kleine Summen, die die meisten Familien rasch aufbringen können - und viele zahlen. So macht man schnelles Geld in Mexiko. So, oder als narco. Narco, das kommt von narcotraficante. So werden alle genannt, die mit Drogengeschäften zu tun haben. Narco zu werden bedeutet die Hoffnung auf einen besseren Lebensstil, auf ein besseres Leben insgesamt. Bildung oder Aufklärung fehlen in jeder Hinsicht.

In Mexiko tobt ein Krieg im Inneren, ein Kampf zwischen Drogenkartellen und der Polizei. Es ist ein Kampf, der immer weiter eskaliert. Die deutsche Tageszeitung taz schreibt in einem Artikel vom 1. November 2008: "Ein Blick auf die letzten Wochen bestätigt das: Am Mittwoch wird der Chef von Interpol Mexiko wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Drogenmafia festgenommen. Im Bundesstaat Sinaloa sterben an einem Tag 58 Menschen, unter ihnen der Polizeipräsident des Landes. Kurz zuvor werden 35 Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft verhaftet, weil sie mit den Kartellen kooperiert haben sollen, der Chef der Bundespolizei tritt aus demselben Grund zurück. Letzten Donnerstag werden im nordmexikanischen Ciudad Juárez zwölf Menschen ermordet, unter ihnen der Polizeireporter Armando Rodríguez. Insgesamt sterben in den ersten 10 Monaten dieses Jahres (2008) 4.400 Menschen durch die Kugeln von Polizisten, Soldaten oder rivalisierenden Banden - Dimensionen, wie man sie sonst nur von Kriegsschauplätzen wie Afghanistan kennt." Polizisten, Politiker und vor allem auch investigative Journalisten leben in Mexiko enorm gefährlich. "Mexiko ist das gefährlichste Land für Journalisten. Über 40 Reporter wurden seit dem Jahr 2000 ermordet, meist, weil sie im Drogenmillieu recherchiert hatten" - das schreibt die taz (November 2008). Der Staat versucht gegen die Drogenkartelle vorzugehen, er versucht, auch mit Unterstützung des Auslands, das Problem militärisch zu lösen - bisher vergeblich. Traurig.

Traurig ist auch, was beim Lesen dieses Textes vielleicht auffiel: SWR 1 podcast, die deutsche Tageszeitung taz - beides deutsche Quellen. Das liegt auch daran, dass diese Infos in den mexikanischen Medien fast nicht zu finden sind. Und das obwohl hier in Mexiko eine große Vielfalt an Tageszeitungen existiert. Die mexikanische Verfassung garantiert offiziell zwar die Pressefreiheit, tatsächlich übt die Politik jedoch sowohl offene als auch weniger nachweisbare Pressezensur aus. Im Buch "KulturSchock Mexiko" von Klaus Boll (erschienen im Reise-Know-How-Verlag) finden sich hierzu Erläuterungen: Die meisten Tageszeitungen finanzieren sich weniger durch den Verkaufspreis am Kiosk, sondern mehr über die publizierten Anzeigen. Hier sind Aufträge vom Staat, von der Regierungspartei und von dieser nahestehenden Industrieunternehmen für die Zeitungen überlebenswichtig. Daher wird in den mexikanischen Zeitungen so wenig scharfe, offene Kritik an der Regierungspolitik geübt, viele brisante Informationen werden nicht veröffentlicht. Zum Beispiel habe ich auch in den wenigen kritischen Zeitungen, die es hier gibt, keine Informationen darüber gefunden, dass der Interpol Chef wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Drogenmafia festgenommen wurde. Auch dass der Chef der Bundespolizei aus demselben Grund zurücktrat erfuhr ich aus den deutschen Medien. Unter der Hand wird die Presse weitgehend staatlich kontrolliert. "Wer nicht regierungskonform schreibt, darf nicht mehr mit Anzeigen des Staates, der Regierungspartei und bestimmter Unternehmen hoffen. Kritischen Zeitungen werden keine wichtigen Informationen und interessante Interviews aus diesen Kreisen mehr vermittelt. [...] Regierungsstellen und Parteien leisten darüber hinaus auch direkte Zahlungen an die Journalisten um ihnen die Entscheidung zu erleichtern, wie sie einen bestimmten Sachverhalt darstellen sollen. Wer diese Hinweise noch immer nicht verstanden hat, darf mit massiven Drohungen rechnen. Und wer partout nicht einsehen will, wer der Stärkere im Land ist, muss gar mit einem Attentat rechnen. Erschossene Journalisten hat es in den vergangenen Jahrzehnten in Mexiko genügend gegeben" - so Klaus Boll in seinem Buch "KulturSchock Mexiko" über die Pressefreiheit in diesem Land, und weiter: "Die Mexikaner wissen von diesen Praktiken und sind darauf eingestellt, sie vermögen zwischen den Zeilen zu lesen. [...] Um bestimmte Informationen, Andeutungen, zarte Hinweise und versteckte Signale zu verstehen, muss man bereits zahlreiche andere Kenntnisse besitzen. Viele gerade in der Öffentlichkeit gemachte Aussagen ergeben ohne diese zusätzlichen Informationen wenig Sinn." Ja, das kommt mir irgendwie bekannt vor...

In Mexiko zu leben bedeutet (neben all den schönen Dingen, die das Land bietet und neben all den tollen Erfahrungen, die man hier sammeln kann) einen Verlust an Freiheit, ein Unwohlsein und das Gefühl verletzlich zu sein, das man immer mit sich herumschleppt. Das kommt vor allem auch daher, dass auf die Polizei kein Verlass ist. So was Korruptes wie die mexikanische Polizei kann man sich gar nicht vorstellen. Man kommt gar nicht darum herum persönliche Erfahrungen damit zu machen. Korruption ist Alltag. Sie durchsetzt den ganzen Polizeiapparat und alle, die hier leben, lernen sie kennen (siehe dazu zum Beispiel den blogtext "Ohne Kommentar"). Das Ganze ist relativ leicht erklärbar: Die Polizisten sind schlecht ausgebildet und werden schlecht bezahlt. Viele sind regelrecht auf Schmiergelder angewiesen, denn nur so können sie ihre Familien versorgen. Macht bedeutet Sicherheit. Und Menschen Macht zu geben, die keine Sicherheit haben - das ist ein gravierender Fehler, den kein System machen sollte. Es ist genau der Fehler, den Mexiko macht. So was wie "öffentliche Sicherheit" gibt es viel zu wenig in diesem Land. Der SWR-Korrespondent weist im podcast darauf hin, dass nur elf Prozent der Mexikaner Steuern zahlen. Und er fragt zu Recht: Woher also soll das Geld kommen für öffentliche Sicherheit? Diese Verbindung `Steuern zahlen = in öffentliche Sicherheit investieren` existiert in zu vielen mexikanischen Köpfen nicht - auch nicht in den Köpfen der verantwortlichen Politiker. Welche Freiheit wir in Deutschland haben (auch bedingt durch soziale Gerechtigkeit) - das ist eines der Dinge, die ich erst hier in Mexiko so richtig zu schätzen gelernt habe.

Die aktuelle Situation ist ein Teufelskreis und Mexiko ist auf dem Weg nach unten. Das bezieht sich nicht nur auf den Aspekt der Sicherheit. Die meisten der staatlichen Schulen sind eine Katastrophe. Doch private Schulen und Universitäten (die es hier gibt und die wirklich gut sind) kann sich nicht einmal die mexikanische Mittelschicht leisten. Wer Geld hat, kann in Mexiko ALLES erreichen. Und das ist ganz wörtlich gemeint: ALLES. Zum Beispiel kann man sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit genügend Geld von jeder erdenklichen Strafe freikaufen, egal welches Verbrechen jemand begangen hat. Geld ist der Schlüssel zu allem. Nicht zufällig kommt der zweitreichste Mann der Welt aus Mexiko. Wer jedoch kein Geld hat, wer arm geboren wird, der stirbt in der Regel auch arm. Soziale Sicherungssysteme gibt es, doch sie greifen viel zu wenig. Wer im Arbeitsleben scheitert, kann sich in der Regel nur auf die Familie als soziale Stütze verlassen. So kommt es, dass ein Familienvater oft nicht nur seine eigene Kleinfamilie versorgen muss, sondern Großeltern und/oder arbeitslose/geringverdienende Verwandte gleich mit. Mit Jobs wie Bus oder Taxi fahren ist das nahezu nicht möglich. Trotzdem ist die Familie der wichtigste, der zentrale Anlaufpunkt für die meisten Mexikaner und Mexikanerinnen. Sehr viele (gerade auch sehr viele Studenten) leben vorwiegend in der Großfamilie.

Daher war es für uns Austauschstudenten hier auch sehr schwierig, Freundschaften zu Mexikanern aufzubauen. Zum Beispiel gelang es mir nur zu einem einzigen Mädchen aus meinen drei Kursen so etwas wie eine Freundschaft zu erreichen. Oft habe ich von MexikanerInnen gehört, das läge an uns Europäern, wir seien so frío, so kalt und unnahbar. Ich glaube, es liegt nicht nur an uns. Ich bin am Anfang des Semesters auf meine neuen Kommilitonen und Kommilitoninnen zugegangen, auch mit der Intention Freundschaften zu schließen. Zum Beispiel gab es da Fidel, einen Soziologiestudenten aus dem Semester über mir, den ich zufällig kennenlernte und mit dem ich mich in der ersten Woche eine Weile unterhalten habe. Großer Fehler. Am nächsten Morgen kam seine Freundin zu mir, die in meinem Kurs war und sagte auf Spanisch zu mir auf: "Lass Fidel in Ruhe, ihr Mädchen aus der ersten Welt braucht gar nicht hier her kommen und denken, ihr könnt uns die mexikanischen Männer ausspannen." Ich war völlig perplex. Weder Fidels Freundin noch eine ihrer Freundinnen aus meinem Kurs haben das ganze Semester auch nur ein Wort mit mir gewechselt. Dann gab es da noch Emir, einen sehr netten Kommilitonen, der meistens in den Kursen neben mir saß und mit dem ich mich gut verstanden habe - solange seine Freundin nicht in der Nähe war. Sobald seine Freundin dabei war hat Emir mir nicht einmal mehr "Hola" gesagt. Paulina war und ist bis heute die einzige Mexikanerin mit der ich auch außerhalb der Kurse Kontakt hatte und mit der ich auch in Verbindung bleiben werde, wenn ich wieder in Deutschland bin. Diese Freundschaft ist ein Einzelfall. Doch zum Glück war auch Fidels Freundin ein Einzelfall. Ich wurde in meinem Kurs von den meisten durchaus nett und zuvorkommend behandelt und es gab viele Kommilitonen, die mir geholfen haben, wenn ich Fragen hatte. Von den meisten wurde ich auch mit Interesse beobachtet. Eine Einladung nach Hause, zum Beispiel, oder ein gemeinsames Kaffeetrinken gab es hingegen kaum. Nicht, dass Einladungen nicht ausgesprochen worden wären - im Gegenteil. Doch daraus ist nie was geworden. Solche Einladungen kann man hier auch wirklich erst ernst nehmen, wenn sie vier, fünf Mal ausgesprochen werden. Schade. Außerhalb der Uni haben wir jedoch viele sehr nette Menschen kennengelernt, darunter auch viele Mexikaner, die mich immer wieder aus meinem zwischenzeitlichen Mexikoma gerissen haben.

Was ich furchtbar fand und woran ich mich nie gewöhnen konnte war dieses Rassen-Ding. Ich war in meinen Kursen ständig nur "la chica del primer mundo - das Mädchen aus der ersten Welt". Ich habe das ganze Semester über so oft gehört, dass jemand gesagt hat "Das Mädchen aus der ersten Welt hat ´ne 10 in der Klausur", "Das Mädchen aus der ersten Welt hat seinen Aufsatz schon abgegeben", "Das Mädchen aus der ersten Welt hat den Text nicht gelesen", "Das Mädchen aus der ersten Welt hat dieses oder jenes"... Schrecklich. Was ich auch furchtbar fand und woran ich mich nie gewöhnen konnte war, dass mir so oft Leute, vor allem Männer, "pinche gringa" oder "pinche güera" hinterhergerufen haben. "Güera" heißt eigentlich nichts weiter als "blond". Blond, blauäugig, hellhäutig - das ist hier nicht nur das allgemeine Schönheitsideal, sondern das bringen viele Mexikaner immer in Verbindung mit reich, stark und "was Besseres sein". Und viele sind neidisch, auf den Wohlstand, den sie damit verbinden, auf soziale Gleichheit, Sicherheit, ... Und das Wort "güera" bezieht sich nicht nur auf die Haarfarbe, sondern - wie die Mexikaner auch selbst sagen - auf die Rasse. Daher ist die adäquate Übersetzung für "pinche güera" so was wie "Scheiß Weiße". Ich habe das so oft gehört. Männer haben mir das aus dem Auto heraus hinterher geschrien. Verkäufer haben mich so genannt, wenn sie dachten, ich könne kein Spanisch. Und ich fand das furchtbar. Rassismus war für mich immer ein Thema. Ich hätte nur niemals damit gerechnet, dass Rassismus etwas ist, was mir passiert. So kann und will ich auf die Dauer nicht leben.

Mexiko ist ein Land mit vielen Abgründen und vielen Schattenseiten. Doch trotz allem - nach einem halben Jahr in Mexiko kann ich sagen: Ich habe gerne hier gelebt, jedenfalls die meiste Zeit. Mi querido Mèxico ist ein faszinierendes Land und ich werde wieder hier her kommen, irgendwann.

Montag, 19. Januar 2009

Palenque und Mexico City mit Jörn

Am 29. Dezember kam mich Jörn besuchen, ein Freund und Kommilitone aus Tübingen, der gerade in den USA zwei Auslandssemester macht. Wir hatten schon vor Monaten über eine Silvester-Reunion in Mexiko nachgedacht - umso mehr habe ich mich gefreut, als er tatsächlich kam und wir Silvester gemeinsam im Dschungel feiern konnten. Wir fuhren nach Palenque um ein paar Tage in der fast schon legendären Backpacker-Anlaufstelle El Panchán zu verbringen. (Siehe dazu auch den blogtext "Der Beginn unserer Reise" vom 22.10.08) Am ersten Tag dort besichtigten wir die alte Mayastadt von Palenque, die ich von meiner Reise mit Roland zwar schon kannte, die durch ihre herrliche Architektur und die traumhafte Lage mitten im Urwald aber auch ein zweites Mal beeindruckt. Besonders wenn man sich die Ruinen vorstellt, wie sie zu der Zeit ausgesehen haben, als Palenque auf der Höhe seiner Macht war: blutrot angemalte Tempel mit blauen Stuckdetails, die über hohen, gefährlich steilen Treppen thronen. In Palenque gibt es Hunderte von Ruinen, nur ein kleiner Teil ist ausgegraben. Und alles, was an diesem schweißtreibenden Ort steht, wurde ohne Metallwerkzeuge und ohne das Rad gebaut. Der Dschungel, der die grüne Kulisse der Mayastadt bildet, ist bis heute das Zuhause von Brüllaffen, die man in der Ferne hört.

Am nächsten Tag machten wir eine Tour zu zwei Wasserfällen: Agua Azul und Misol-Ha. Eigentlich wären im Tourprogramm auch die Fälle Agua Clara inbegriffen gewesen, doch das ganze Gebiet dort war von zapatistischen Rebellen besetzt, die mit Waffengewalt zu verhindern suchten, dass Touristen den für sie heiligen Ort besuchen. Das Gebiet haben wir lieber gemieden. Aber Agua Azul und Misol-Ha war toll. Agua Azul - das sind blendend weiße Wasserfälle, die stufenweise in türkisblaue Becken donnern, das Ganze mitten im Urwald. Misol-Ha ist ein kleinerer Wasserfall, der 35 Meter tief in ein breites Becken stürzt, das umgeben ist von üppiger tropischer Vegetation.

Silvester feierten wir in El Panchán, wo in der Dschungelbar einiges geboten war: Live Panflöten-Trommel-Musik, Feuershows, gutes Essen und billige Cocktails. Dummerweise kamen wir gegen zwei Uhr morgens auf die Idee, unseren Freunden in Tübingen ein frohes neues Jahr zu wünschen. Das war ein großer Fehler, denn nicht nur rissen wir Gregor sehr unsanft aus dem Schlaf (Sorry, Greg...), sondern ich verstauchte mir auf dem Weg zur Straße (dem einzigen Ort in El Panchán, an dem es Handynetz gibt) so gründlich den Fuß, dass ich die folgenden Tage fast gar nicht laufen konnte und bis heute nur humpelnd laufen kann. Am ersten Januar fuhren wir dann in das zentrale Krankenhaus von Palenque. Das war auch so ein Erlebnis: Als wir ankamen musste ich mich zunächst an einem Schalter melden und eine Frau legte meine "Krankenakte" an: Ein Stück Schmierpapier. Dann mussten wir warten und es wurde uns schnell ganz Elend zumute, weil in einem der Behandlungszimmer ein kleiner Junge die ganze Zeit markerschütternd schrie. Als ich dann in ein Sprechzimmer gerufen wurde staunte ich nicht schlecht: Alles war alt und dreckig und es gab nicht mal einen Stuhl (geschweige denn einen Computer...). Ich saß auf einem Pappkarton voller Handtücher während der Arzt mich begutachtete. Als ich eintrat war seine erste Frage nicht etwas "Was hast du?", sondern: "Bist du gringa?" Nachdem ich das entnervt verneint hatte war der der Arzt sehr nett und nahm sich Zeit, um meinen Fuß gründlich zu untersuchen. Er verwies mich in eine Radiologie-Praxis (im Krankenhaus gab es nämlich keine Röntgen-Apparate), wohin ich am nächsten Tag fuhr, während Jörn eine Tagestour nach Yaxchilan und Bonampak machte. Für die zwei Röntgenbilder zahlte ich 600 Pesos (derzeit sind das etwa 35 Euro). Das fand ich schon ziemlich heftig, denn wir waren in Chiapas, dem ärmsten Bundesstaat Mexikos, in dem ein großer Teil der Menschen überhaupt keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hat weil die Infrastruktur und das nötige Geld fehlen. Wie soll denn da ein armer Bauer (selbst wenn er bis in die Röntgenpraxis kommen kann) auch nur ein einfaches Röntgenbild zahlen?

Später an diesem Tag verabschiedeten wir uns aus Palenque und fuhren 14 Stunden lang über Nacht nach Mexico City. Dort machten wir den Tag über das, was auch mit einem Humpelfuß möglich war: Wir waren auf dem Zócalo, dem zweit größten innerstädtischen Platz der Welt und besichtigten die Kathedrale und den Palacio Nacional, in dem die riesigen Wandgemälde von Diego Rivera und der alte Parlamentssaal zu sehen sind. Danach machten wir eine Tour mit dem Touribus - eine fußfreundliche Angelegenheit und auch ganz interessant: Auf einer solchen Tour kommt man in Stadtteile, in die man sonst wahrscheinlich eher nicht gehen würde. Am Tag darauf besichtigte Jörn Teotihuacan, die größte erhaltene Azteken-Stadt. Ich verbrachte den Tag lesend in Cafés und in der Kardinalsmesse. Diese begann gerade als ich in der Kathedrale war und ich wollte bleiben, um den Tag ruhig zu beginnen. Mir gefällt das Feierliche, Meditative, Stimmungsvolle einer Messe. Leider war diese Messe überhaupt nicht feierlich. Ständig liefen Touristen an den Messebesuchern vorbei - einer war sogar so dreist und schob die stehenden Besucher zur Seite um ein Foto von sich mit dem Kardinal im Hintergrund machen zu lassen. Ein Filmteam war auch da und ständig blitzte irgendwo ein Fotoapparat. Vor mir aß einer knisternd Kekse, hinter mir unterhielt sich ein Pärchen. Nach einer Stunde hatte ich keine Lust mehr und bin gegangen. Am selben Abend fuhren wir dann zurück und verbrachten den letzten Tag von Jörns Aufenthalt in Mexiko in Puebla und auf dem Markt von Cholula. Am sechsten Januar brachte ich ihn dann an den Flughafen nach Mexico City, von wo aus er zurück in die USA flog.

Auf der Ranch von Armin Senger in Chignahuapan (November 2008)

Auf der Ranch von Armin Senger (Nov. 2008)

Mein Onkel hat einen Kumpel und der Kumpel hat eine Ranch in Chignahuapan, in der Nähe von Puebla. Da mussten wir natürlich hin und uns das anschauen. Im November fanden Julia, Caro, Daniel und ich dann endlich die Zeit für einen Besuch auf der Ranch. Wir kamen abends an und Chignahuapan bereitete uns ein ungemütliches Willkommen: Es war Norte, eine unangenehme Wetterlage, die undurchdringlichen Nebel, niedrige Temperaturen und dichten Nieselregen bringt. Wir sahen kaum etwas, als wir in Armins altem Jeap vom Busterminal in Chignahuapan über holprige, matschige Feldwege zur Ranch fuhren. Als wir schließlich feucht und durchgefroren in der Küche saßen, erwartete uns eine Überraschung: richtiges Körnerbrot zum Abendessen, von Armin selbst gebacken. Wir haben uns sehr darüber gefreut, denn das gibt es sonst in Mexiko nicht. Hier isst man vorwiegend Toastbrot oder Weißbrot, das aber immer ein bisschen süß schmeckt. Den Abend verbrachten wir gemütlich im Wohnzimmer, wo wir uns mit Zuckerrohrschnaps wenigstens von innen etwas zu wärmen versuchten, denn das Feuer, das wir stetig mit einem Fön anzufachen versuchten brannte einfach nicht gut - und nachts gingen die Temperaturen auf die Null Grad zu und zwar draußen genauso wie im Haus! Aber es war ein netter Abend, gefolgt von einem schönen Tag, an dem wir durch den campo spazierten und schließlich an einer Forellenfarm Forellen kauften, die Armin und seine Familie am nächsten Tag für uns kochten.

Bis Samstagabend war dann zum lokalen Fernsehsender durchgedrungen, dass drei deutsche Mädels in Chignahuapan gelandet sind. Also wurden wir in eine Musiksendung eingeladen - als Live-Gäste!!! Eine Stunde lang stellten wir live auf Sendung Musiktitel vor und lasen Grüße, die Zuschauer per SMS ins Studio schickten. Es war eine witzige Erfahrung und da die Fernseh-Jungs echt nett waren kamen sie noch mit uns auf die Ranch, wo wir alle gemeinsam bis fünf Uhr morgens ´ne Menge Spaß und Zuckerrohrschnaps hatten. Am Sonntag gab´s dann die Forellen zu essen, das war richtig lecker. Danach mussten wir uns leider schon wieder aufmachen nach Puebla - doch wir hatten ein schönes, spaßiges Wochenende!

Ein letzter Ausflug nach Mexico City

Überlieferungen zufolge war es der Gott Huitzilopochtli, der den Azteken den Auftrag gegeben hatte, an der Stelle eine Stadt zu errichten, an der sie einen Adler fänden, der auf einem Kaktus sitzend eine Schlange verspeist. Dies - so die alten Schriften - sei der Ort, an dem das Gute über das Böse siegt. Und die Azteken fanden diesen Ort - mitten auf einer Insel im Texcoco-See. Im Jahr 1325 gründeten sie dort die Stadt Tenochtitlan (das heutige Mexico City). Es kann jedoch auch davon ausgegangen werden, dass die Azteken die Insel als Siedlungspunkt wählten, weil sie einen strategisch guten Rückzugspunkt darstellte und der See sie außerdem mit Fisch versorgte. Sea lo que sea - Adler, Schlange und Kaktus sind bis heute das Zentralmotiv der mexikanischen Flagge.

Bald reichte das wenige vorhandene Land nicht mehr aus, die wachsende Bevölkerung Tenochtitlans zu ernähren. Also bauten die Azteken chinampas, schwimmende Gärten. Dazu benutzten sie rechteckige Flöße aus Flechtwerk, auf die sie Erde aufschütteten, dann wieder Flechtwerk, dann wieder Erde, dann wieder Flechtwerk ... und das solange, bis die schwimmenden Anbauflächen den Seegrund erreichten. Dann wurden Weiden gepflanzt, die die Flöße im Seegrund verankerten und den künstlichen Anbauflächen Halt gaben. Über die Jahre wuchsen die Pflanzflöße durch Wurzelbildung am Seegrund fest. Durch die ständige Wasserzufuhr und Schlammdüngung wurden bis zu vier Ernten pro Jahr möglich.

Als die spanischen Konquistadoren unter Hernán Cortés im Jahr 1519 die Azteken unterwarfen (was der Beginn der 300-jährigen spanischen Kolonialherrschaft war) machten sie Tenochtitlan so gründlich dem Erdboden gleich, dass heute nur noch sehr wenige aztekische Bauten erhalten sind. Auf den Trümmern errichteten sie ihre eigene Hautstadt - die moderne Ciudad de México, Mexico City.

Viel ist nicht übrig von Tenochtitlan. Jedoch sind bis heute unter anderem Überbleibsel der chinampas, der schwimmenden Gärten erhalten und zwar in Xochimilco (Náhuatl für "Ort, an dem die Blumen wachsen"). Caro, Dani und ich waren letzten Samstag dort. Auf bunten, geschmückten Floßen, den trajineras, gondelten wir gemütlich durch das verzweigte Kanalsystem von Xochimilco, durch schmale Wasserstraßen und vorbei an Gewächshäusern. Xochimilco ist heute ein beliebtes Ausflugsziel, auf dem Wasser fand ein lebhaftes Treiben statt. Von trajineras aus wurden Süßigkeiten, Speisen und Kunsthandwerk verkauft. Auf anderen Flößen spielten Mariachi. Alles ging bunt und laut durcheinander - es war ein lohnenswerter Ausflug und ein schöner Beginn für meinen letzten Trip nach Mexico City (zumindest der letzte Trip während meines Auslandssemesters hier - ganz sicher nicht der letzte Besuch überhaupt...)

Später an diesem Tag fuhren wir nach Coyoacán, das heute längst Teil der explosionsartig gewachsenen Stadt ist, das vor 100 Jahren jedoch noch ein Vorort von Mexico City war. Im Jahr 1907 wurde hier Frida Kahlo geboren, die Kämpferin und Rebellin, die um ihr Leben malte, als sie durch ein Busunglück zur Invalidin wurde. Sie ist bis heute eine der bedeutendsten Künstlerinnen Mexikos. Sie heiratete gleich zwei Mal den Maler Diego Rivera, den Schöpfer monumentaler Wandbilder (über die ich in den Blogtexten über meine Aufenthalte in Mexico City bereits geschrieben habe). Diego Rivera und Frida Kahlo lebten mehrere Jahre in Fridas Geburtshaus in Coyoacán, das wegen des indigoblauen Anstrichs casa azul genannt wird. Heute befindet sich im Blauen Haus das Museo Frida Kahlo. Leider war es nicht erlaubt, im Haus Fotos zu machen - dafür habe ich jedoch Bilder vom Garten der Frida Kahlo und vom Haus Leo Trotzkis (spanisch: León Trotsky), der nur wenige Blocks entfernt gelebt hat.

Leo Trotzki war neben Lenin der zweite herausragende Führer der russischen Revolution von 1917 und der schärfste Kritiker der stalinistischen Bürokratie, die zu seiner Zeit in Russland herrschte. Nach seiner Vertreibung erhielt er Asyl in Mexiko und führte seinen Kampf von dort aus weiter. Zunächst lebte er gemeinsam mit Frida Kahlo im casa azul, bevor er in ein nur wenige Straßen entferntes, festungsartiges Haus zog, das heute das Museo León Trotsky ist. Im Hof sind seine Überreste begraben. Neben verschiedenen Fotoausstellungen finden sich in dem Museum bis heute die Räume, in denen er lebte - unter anderem das Schlafzimmer, in dem er am 24. Mai 1940 knapp ein Attentat mit Schusswaffen durch Stalin-treue Kommunisten überlebte. Die Einschusslöcher in den Wänden sind noch immer zu sehen. Auch sein Arbeitszimmer kann man anschauen - dort erschlug der sowjetische Geheimagent Ramón Mercader Leo Trotzki im Jahr 1940 mit einem Eispickel. Die Räume sind original erhalten - das musste ich mir natürlich noch anschauen, bevor ich am 24. Januar nach Deutschland zurück fliege.

Xochimilco - Museo Frida Kahlo - Museo León Trotsky

Ein letzter Ausflug nach Mexico City

Sonntag, 18. Januar 2009

Eine Reise durch Baja California Sur

Am siebten Dezember flogen Julia und ich von Mexico City aus nach Guadalajara, wo am Tag darauf auch Daniel ankam. Von Guadalajara aus begannen wir unsere Reise in den Norden. Zuerst ging´s nach Mazatlán, einer Stadt an der Westküste Mexikos. Dort nahmen wir ein Schiff und fuhren über Nacht in den Staat Baja California Sur, zunächst nach La Paz. Danach ging es eine ganze Nacht lang mit dem Bus weiter in den Norden nach Guerrero Negro, von wo aus wir über San Ignacio und Mulegé in Etappen nach La Paz zurück fuhren.


Da Julia und ich beide krank waren verbrachten wir den ersten Nachmittag in Guadalajara beim Arzt. Auf der Suche nach einer Praxis, die sonntagmittags geöffnet hat, landeten wir bei einem Doktor der Kette "Farmácias Similares", einer Apothekenkette, die Medikamente mit den Wirkstoffen der Originalpräparate selbst billiger herstellt. Zu diesen Apotheken gehört oft auch ein Arzt, der von "Farmácias Similares" finanziell unterstützt wird und der gegen eine geringe Gebühr von 25 Pesos (umgerechnet etwa 1,50 Euro) vor allem arme Patienten untersucht. Als wir die sogenannte "Praxis" betraten staunten wir nicht schlecht: Das Arztzimmer war ausgestattet mit nahezu nichts. Es gab zum Beispiel nur eine einzige Lampe um in Hals, Nase und Ohren zu leuchten. Dazu hatte der Arzt einen einzigen Aufsatz, den er kurz mit einem mit Desinfektionsmittel befeuchteten Wattebausch abwischte bevor er erst mir und später, nach der gleichen knappen Reinigungsprozedur, Julia in Hals und Nase leuchtete. Lecker.

Nachdem wir die verschriebenen Medikamente gekauft hatten wollten wir etwas essen gehen. Wir fanden ein gemütliches Café, das, wie auf dem Schild neben dem Eingang zu lesen stand, 1959 eröffnet worden war. Vielleicht waren es sogar noch die gleichen Männer von damals (die in den 1960ern vermutlich genauso in waren, wie das Café), die an den hinteren Tischen Domino spielten. Nachdem wir uns umgeschaut hatten war uns klar, warum es im Cafe so ruhig geworden war, als wir entraten: Wir waren die einzigen Mädchen unter dominospielenden Männern, die uns neugierig betrachteten.

Später an diesem Tag erkundeten wir das historische Stadtzentrum und versuchten die Orte zu finden, die uns als impresionante beschrieben worden waren. Allerdings waren wir von den sogenannten Highlights etwas enttäuscht - so schön, wie im Reiseführer beschrieben, fanden wir die Altstadt von Guadalajara längst nicht. Um sieben Uhr abends hatten wir genug und gingen ins Bett um uns auszukurieren. Nach 14 Stunden Schlaf und einem ausgiebigen Frühstück kam dann Daniel im Hotel an. Mit ihm waren wir an diesem Abend italienisch essen. Ich mag das mexikanische Essen wirklich gern, Julia auch, aber nach fünf Monaten hier sind selbst einfache Spaghetti mit Tomatensoße für uns eine ersehnte Sensation...

Am Dienstag machten wir dann das, was man wohl gemacht haben muss, wenn man im Land des Tequila studiert: Wir fuhren nach Tequila. Die kleine Stadt - nach der das Getränk übrigens benannt ist - ist etwa eine Busstunde von Guadalajara entfernt. Wir fuhren durch eine trockene, wüstenähnliche Landschaft, in der sich über Kilometer ein Agaven-Feld ans nächste reiht. Ein Deutscher namens Weber hat herausgefunden, dass sich der originale Tequila nur aus einer einzigen (von insgesamt über 100) Agaven-Sorten hergestellen lässt: Aus der Maguey-Agave. Einst hatten Einheimische durch Zufall entdeckt, dass das aus der blauen Agave gewonnene Getränk nach einiger Zeit eine schwummrig machende Wirkung auf den Organismus hat. Sie dachten, das Getränk sei ein Geschenk der Götter - erst viele Jahre später lehrten die spanischen Eroberer sie das Destillieren. Heute gibt es in Tequila mehr als 20 große Destillerien, die dafür sorgen dass es fast keine Arbeitslosigkeit in dieser Stadt gibt. Nachdem wir das hübsche historische Stadtzentrum angeschaut hatten machten wir eine Tequila-Tour. Wir fuhren an den Firmen der großen Marken vorbei zu einer Destillerie, in der uns die Herstellung des Tequila von der Pflanze bis zum fertigen Destillat erklärt und gezeigt wurde. Danach durften wir natürlich probieren. Mir wollten sie sogar die doppelte Portion Tequila andrehen, denn das Getränk wird von so ziemlich jedem Mexikaner als DAS ultimative Heilmittel für jede Krankheit angepriesen. Ich lehnte ab, weil ich Antibiotika nehmen musste - das stieß auf allgemeines Unverständnis. Die Tour war interessant. Zum Beispiel erfuhren wir, dass die blauen Agaven acht Jahre wachsen müssen, bis sie geerntet werden können. Die Stümpfe der Pflanzen, aus denen der Tequila hergestellt wird, wiegen dann zwischen 50 und 100 Kilogramm. Aus sieben Kilogramm Agave wird ein Liter Tequila gewonnen. Leider wird der richtig gute, der originale, keine Kopfschmerzen verursachende Tequila nicht nach Europa exportiert - er schmeckt wesentlich besser als der Sierra mit dem kitschigen Plastik-Sombrero, der bei uns verkauft wird. Es gibt hier sogar mindestens eine Tequilamarke, deren Flaschen nicht Außerlandes gebracht werden dürfen, nicht einmal einzeln als Geschenk für Verwandte oder Freunde.

Am gleichen Abend fuhren wir von Guadalajara aus weiter in der Norden, nach Mazatlán. Morgens um sechs kamen wir dort an. Dachten wir jedenfalls, doch als wir drei Stunden später die Tickets für die Fähre nach La Paz kaufen wollten erfuhren wir vor den verschlossenen Toren des Hafens davon, dass Mazatlán in einer anderen Zeitzone liegt - der Unterschied zu Deutschland beträgt hier acht und nicht, wie zum Beispiel in Puebla, sieben Stunden. Wir deponierten unser Gepäck in einem Hotel, schauten uns das Stadtzentrum an und kamen um drei Uhr nachmittags zurück zum Hafen, denn zu dieser Zeit sollte das Schiff beladen werden. Von wegen... Hier musste wir zum ersten Mal auf unserer Reise so richtig lang warten. Das Schiff kam gegen fünf Uhr, bis wir an Bord gehen konnten vergingen weitere zwei Stunden. Wir hatten für umgerechnet 45 Euro Aufschlagzahlung eine Kabine für drei Personen gemietet und so verbrachten 13 entspannte Stunden an Bord des "Chihuahua Star" und kamen am nächsten Morgen halbwegs ausgeruht in der Baja California, in La Paz, an. Es war Daniel Geburtstag. Doch anstatt am Strand (wie geplant) verbrachten wir den Tag tagebuchschreibend in einem Café - es war einfach zu kalt zum baden.

Am Abend wollten wir kochen. Um Essen einzukaufen suchten wir einen Supermarkt - kein leichtes Unterfangen dank einer für uns Europäer etwas seltsam anmutenden Art der Höflichkeit. Fragt man einen Mexikaner nach dem Weg und weiß er denselben nicht, so sagt er nicht etwa "Entschuldigung, ich hab leider keine Ahnung". Nein, er sagt zum Beispiel "Fünf Blocks geradeaus und dann rechts". Aus dem Tonfall hört der Einheimische heraus, dass der Gefragte keine Ahnung hat - wir unwissenden Fremden folgen jedoch der vermeintlichen, doch stets mit dem Brustton der Überzeugung vorgetragenen Wegbeschreibung - und landen regelmäßig im Sonstwo. Hier in Mexiko ist man nicht so direkt, zu sagen "Ich weiß nicht wo ein Supermarkt ist". Es gilt sogar als unhöflich, wenn man das sagt. Tja, und da wir nicht aus dem Tonfall heraushören, ob eine Auskunft wahr ist oder nicht, verliefen wir uns bereits ungezählte Male. So auch an diesem Donnerstagabend. Frei nach dem Motto "Ein Geograph verläuft sich nicht, er erkundet" folgten wir den Wegbeschreibungen und liefen schnurstracks in die falsche Richtung. So wurde aus "Lass uns noch kurz zum Supermarkt gehen" eine dreistündige Odysee durch La Paz.

Am nächsten Tag wollten wir mit dem Bus an einen Strand fahren. Das ging nicht, man sagte uns, alle Busse seien in der Werkstatt. Später erfuhren wir, dass wir die einzigen Fahrgäste gewesen wären und nur für drei Leute hatte der Busfahrer keine Lust zu arbeiten. Abends gingen wir - um Geld zu sparen - in ein billiges Restaurant - eine Sparmaßnahme, die uns unsere Mägen die ganze elfstündige Nachtbusfahrt nach Guerrero Negro bereuen ließen...

Auf unserer ganzen Reise durch Baja California wurden wir sehr oft von Militäs kontrolliert. Hintergrund ist folgender: Mexiko ist Hauptliferant für in den USA konsumiertes Marihuana und Kokain. 90 Prozent des verkauften Kokains kommt von Columbien über Mexiko ins Land - vieles davon über die einsamen Straßen der Baja California. Daher gibt es viele Militärposten, die Fahrzeuge anhalten und Ladung und Insassen kontrollieren. Allein auf unserer elfstündigen Busfahrt von La Paz nach Guerrero Negro mussten wir vier mal aussteigen, jedes Mal wurde alles Gepäck ausgeladen und wir standen, umzingelt von Soldaten mit Maschinengewehren und Strummasken, mitten in der Nach mitten in der Wüste und wurden durchsucht. An anderen Stopps stiegen Mitarbeiter der Migrationsbehörde ein und überprüften, ob auch kein Südamerikaner im Bus sitzt, der auf diesem Wege versucht, illegal in die USA zu gelangen. Mehrfach wurden wir auch unsanft wachgerüttelt, weil der Busfahrer Vollbremsungen einlegen musste, um Kühe auf der Straße nicht zu überfahren. Es war eine anstrengende Nacht und wir waren ziemlich am Ende als wir am nächsten Morgen ankamen.

Guerrero Negro: "Hier dreht sich alles ums Whale-Watching; ansonsten ist hier nicht mehr viel geboten. [...] Eine der etwas seltsameren Whale-Watching-Regelungen untersagt das Mitnehmen von mascotas (Haustieren) - damit können nur die Wale gemeint sein... braucht man dafür wirklich ein Gesetz?" Das steht im lonely planet über die kleine Stadt in der Wüste. Jedes Jahr paaren sich in einer Lagune in der Nähe hunderte kalifornische Grauwale und ziehen ihren Nachwuchs groß. Zwischen Dezember und März, so sagte man uns, verweilen die Wale bei Guerrero Negro und man kann sie vom Schiff aus beobachten. Julia, Daniel und ich waren am 15. Dezember vor Ort... nur leider waren die Walen noch nicht da. Wir hatten falsche Informationen, erst am 18. Dezember fangen die Wale-Watching-Unternehmen überhaupt an, auf´s Meer raus zu fahren und zu schauen, ob die Wale schon da sind. Whale-Watching geht erst richtig gut im Januar. Und so viele Leute hatten uns erzählt, ja, ja, das geht ab Mitte Dezember, auf jeden Fall... Wir waren ziemlich enttäuscht, vor allem weil wir mit unseren kaputten Mägen eine schreckliche, elfstündige Busfahrt in einem übervollen Reisebus auf uns genommen hatten um nach Guerrero Negro zu gelangen. Und der lonely hat Recht: In Guerrero Negro gibt es sonst überhaupt nichts zu machen oder zu sehen und wir verbrachten den halben Tag frustiert in einem Café und tranken magenberuhigenden Tee.

Die Baja California Sur ist Wüste, eine raue, sonnenverbrannte Landschaft, in der sich ein Kaktus neben dem anderen gen Himmel reckt. Durch diese weite Einsamkeit fuhren wir von Guerrero Negro aus nach San Ignacio, einem kleinem Dorf in einer Oase mit 2000 Einwohnern und ungefähr ebensovielen Dattelpalmen. Diese wurden vor Jahrhunderten zum ersten Mal von jesuitischen Missionaren angepflanzt - heute gibt es einen ansehnlichen Dattelpalmenwald. Ansonsten gab es in San Ignacio noch eine schöne alte Mission und sonst... nichts. Nicht einmal einen Bankautomaten. Und wir hatten gerade genug Bargeld für ein billiges Hotelzimmer, das wir uns mit Kakerlaken und anderen Tieren mit zu vielen Füßen teilen mussten, eine Suppe für jeden und den Bus nach Mulegé, wohin wir am nächsten Tag fuhren.


In der nördlichen Hälfte der Baja California Sur gibt es eigentlich nur diese größeren Orte: Guerrero Negro, San Ignacio, Santa Rosalía (was wir ausliesen) und Mulegé. Zwischen diesen Orten verkehrt mehrmals am Tag ein Bus. Es gibt nur eine Busgesellschaft, die die Preise festlegen kann. Allerdings kauft man die Tickets meist gar nicht offiziell am Schalter, sondern inoffiziell direkt beim Busfahrer. So zahlt man etwas weniger, dafür wird aber erwartet, dass man schweigt. Denn wie man beobachten kann, wenn man genauer hinschaut: Der Busfahrer steckt das Geld in die eigene Tasche und teilt es später, irgendwo hinter dem Bus versteckt, mit der Ticketverkäuferin und den für´s Gepäck Zuständigen - an die Busgesellschaft wird die Information weitergegeben, der Bus sei ohne Gäste gefahren. Mitten in der Wüste bekommt das keiner mit und die Militärposten, die unterwegs ständig die Busse anhalten und Gepäck und Fahrgäste kontrollieren interessieren sich nicht für Fahrkarten.

In San Ignacio sagte man uns, der Bus nach Mulegé käme zwischen ein und zwei Uhr. Von wegen... Wir warteten fast drei Stunden am Busterminal (das nicht mehr war als ein sonnenverbrannter Sandplatz am Straßenrand mit einem kleinen Supermarkt). Dort fanden wir ein nettes, kleines Hotel, ein Familienbetrieb in dem es sogar warmes Wasser gab und in dem wir mit Kreditkarte bezahlen konnten (es gab in Mulegé zwar einen Bankautomaten, doch er war außer Betrieb...) Am nächsten Tag machten wir einen Tagesausflug, der wirklich toll war: Wir fuhren zunächst auf eine Orangenfarm und aßen die besten Orangen, Mandarinen und Grapefruits ever. Dann ging es im Jeap über sandigsteinige Pisten weiter, vorbei an vielen, teils uralten Kakteen. Irgendwo in der Wüste machten wir dann Halt und unser guia erklärte uns die Pflanzen, welche Heilwirkung sie haben und wofür die alten indios sie benutz(t)en. Nach einer längeren Fahrt kamen wir schließlich an einer Ranch an, von der aus wir zu Fuß weiter gingen bis zu einem canon, in dem wir Felszeichnungen von indios anschauten, die dort zwischen 1700 und 7000 vor Christus gelebt haben.

Den nächsten Tag verbrachten wir an zwei verschiedenen Stränden. Leider war es wieder zu kalt zum baden, aber es war trotzdem schön. Abends aßen wir callos, irgendwelche Meerestiere - wir konnten bis heute nicht eindeutig rausfinden, was das jetzt genau war. Aber es war lecker und wir bekamen zur Abwechslung keinen Durchfall... Nach einer letzten Nacht in Mulegé fuhren wir dann zurück nach La Paz. Auch dieser Bus lies mehrere Stunden auf sich warten und die Fahrt dauerte, dank Militärkontrollen und Pausen, knappe acht Stunden statt der angesetzten sechs... Spät abends kamen wir wieder in La Paz an, wo wir die beiden letzten Tage unserer Reise gemütlich am Strand relaxten. Daniel flog am 19. und Julia und ich flogen am 20. Dezember zurück nach Puebla. Auf dieser Reise stellten wir fest: In Mexiko reisen (jedenfalls außerhalb der überlaufenen Touristengebiete) heißt warten. In den 13 Tagen unserer Rundreise verbrachten wir insgesamt 14 Stunden an Busterminals bzw. im Hafen von Mazatlán.