Dienstag, 20. Januar 2009

Mi querido México

Mexiko zu entdecken bedeutet, durch eine Vielfalt von unterschiedlichsten Landschaften zu reisen, Wüste zu erleben und ewiges Eis auf den Gipfeln der Vulkane, Dschungel und tropische Strände, modernste Stadtteile und unterentwickelte Dörfer und nicht zuletzt ein kulturelles Erbe, das seinesgleichen sucht - alles vereint in einer einzigartigen Flora und Fauna. Und man spürt hier so viel Leben, so viel Ausgelassenheit, so viel Freude, so viel Energie. Mexiko ist einzigartig und die Mexikaner sind sich dessen bewusst. Nicht selten hörte ich hier den Satz: "México es un otro mundo" - "Mexiko ist eine andere Welt, ist unvergleichlich". Und sie haben Recht: Mexiko ist eine andere Welt und es ist unvergleichlich - doch leider nicht nur im positiven Sinne. Keine Region dieser Welt ist so ungleich wie Lateinamerika und speziell Mexiko. Nirgendwo anders ist das Gefälle zwischen Arm und Reich so enorm. Die Schere der Ungleichheit klafft nicht nur zwischen Stadt und Land. Gerade auch innerhalb der Städte gibt es ein ausgeprägtes Gefälle zwischen extremer Armut und perversem Reichtum. In Mexico City, zum Beispiel, gibt es viele Mexico Cities: Moderne, hochentwickelte Viertel und großer Reichtum finden sich hier. Und dann (da sollte man allerdings auf keinen Fall hin gehen) gibt es Viertel, in denen Menschen auf Müllhalden leben und ein paar Pesos verdienen, indem sie Müll sortieren, wenn er angefahren wird. Mexiko ist ein Schwellenland. Das bedeutet, es ist ein Land, das in vielen Gegenden noch immer Entwicklungsland ist - vor allem in Staaten, die indigen geprägt sind (wie zum Beispiel Chiapas). In anderen Regionen ist Mexiko jedoch längst Industrieland (in Puebla, zum Beispiel).

Aus der Spannung zwischen Armut und Reichtum entsteht Kriminalität. Mexico City gilt heute als eine der gefährlichsten Städte der Welt. In einem SWR 1 podcast vom 30. August 2008 liefert SWR-Korrespondent Michael Castritius, der in Mexico City lebt, Erklärungen: Vor allem Jugendliche in den slums, so Michael Castritius, sehen einerseits, dass das Leben ihnen keine Perspektiven bietet. Sie sehen das Elend ihrer Eltern und ihr eigenes und blicken in eine Zukunft ohne Hoffnung auf ein besseres Leben. Gleichzeitig haben sie immer mehr Zugang zu Informationen, aus Fernsehen und Internet erfahren sie vom Reichtum, den es in ihrem Land gibt. Sie begreifen, dass schicke Autos und Goldketten nicht nur das sind, was Rapper in ihren Liedern besingen - sondern Teil der Realität der Reichen. Das provoziert Aggression. Die Jugendlichen wollen ihren Teil vom Kuchen einfordern und das nicht selten auf brutalste Art.

Mexiko ist heute die Metropole mit den meisten Entführungen weltweit. Man spricht von einer richtigen Entführungs-Industrie - sowohl was durchgeführte Entführungen angeht als auch vorgetäuschte. Zum Beispiel bekommen Familien einen Anruf, am anderen Ende der Leitung weint ein Kind und jemand sagt ihnen: "Wir haben ihre Tochter". Die Anrufer hoffen darauf, dass die Familien tatsächlich eine Tochter haben, die gerade im Kino ist oder sonstwie nicht erreichbar. Und sie fordern wenig Geld, relativ kleine Summen, die die meisten Familien rasch aufbringen können - und viele zahlen. So macht man schnelles Geld in Mexiko. So, oder als narco. Narco, das kommt von narcotraficante. So werden alle genannt, die mit Drogengeschäften zu tun haben. Narco zu werden bedeutet die Hoffnung auf einen besseren Lebensstil, auf ein besseres Leben insgesamt. Bildung oder Aufklärung fehlen in jeder Hinsicht.

In Mexiko tobt ein Krieg im Inneren, ein Kampf zwischen Drogenkartellen und der Polizei. Es ist ein Kampf, der immer weiter eskaliert. Die deutsche Tageszeitung taz schreibt in einem Artikel vom 1. November 2008: "Ein Blick auf die letzten Wochen bestätigt das: Am Mittwoch wird der Chef von Interpol Mexiko wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Drogenmafia festgenommen. Im Bundesstaat Sinaloa sterben an einem Tag 58 Menschen, unter ihnen der Polizeipräsident des Landes. Kurz zuvor werden 35 Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft verhaftet, weil sie mit den Kartellen kooperiert haben sollen, der Chef der Bundespolizei tritt aus demselben Grund zurück. Letzten Donnerstag werden im nordmexikanischen Ciudad Juárez zwölf Menschen ermordet, unter ihnen der Polizeireporter Armando Rodríguez. Insgesamt sterben in den ersten 10 Monaten dieses Jahres (2008) 4.400 Menschen durch die Kugeln von Polizisten, Soldaten oder rivalisierenden Banden - Dimensionen, wie man sie sonst nur von Kriegsschauplätzen wie Afghanistan kennt." Polizisten, Politiker und vor allem auch investigative Journalisten leben in Mexiko enorm gefährlich. "Mexiko ist das gefährlichste Land für Journalisten. Über 40 Reporter wurden seit dem Jahr 2000 ermordet, meist, weil sie im Drogenmillieu recherchiert hatten" - das schreibt die taz (November 2008). Der Staat versucht gegen die Drogenkartelle vorzugehen, er versucht, auch mit Unterstützung des Auslands, das Problem militärisch zu lösen - bisher vergeblich. Traurig.

Traurig ist auch, was beim Lesen dieses Textes vielleicht auffiel: SWR 1 podcast, die deutsche Tageszeitung taz - beides deutsche Quellen. Das liegt auch daran, dass diese Infos in den mexikanischen Medien fast nicht zu finden sind. Und das obwohl hier in Mexiko eine große Vielfalt an Tageszeitungen existiert. Die mexikanische Verfassung garantiert offiziell zwar die Pressefreiheit, tatsächlich übt die Politik jedoch sowohl offene als auch weniger nachweisbare Pressezensur aus. Im Buch "KulturSchock Mexiko" von Klaus Boll (erschienen im Reise-Know-How-Verlag) finden sich hierzu Erläuterungen: Die meisten Tageszeitungen finanzieren sich weniger durch den Verkaufspreis am Kiosk, sondern mehr über die publizierten Anzeigen. Hier sind Aufträge vom Staat, von der Regierungspartei und von dieser nahestehenden Industrieunternehmen für die Zeitungen überlebenswichtig. Daher wird in den mexikanischen Zeitungen so wenig scharfe, offene Kritik an der Regierungspolitik geübt, viele brisante Informationen werden nicht veröffentlicht. Zum Beispiel habe ich auch in den wenigen kritischen Zeitungen, die es hier gibt, keine Informationen darüber gefunden, dass der Interpol Chef wegen mutmaßlicher Verbindungen zur Drogenmafia festgenommen wurde. Auch dass der Chef der Bundespolizei aus demselben Grund zurücktrat erfuhr ich aus den deutschen Medien. Unter der Hand wird die Presse weitgehend staatlich kontrolliert. "Wer nicht regierungskonform schreibt, darf nicht mehr mit Anzeigen des Staates, der Regierungspartei und bestimmter Unternehmen hoffen. Kritischen Zeitungen werden keine wichtigen Informationen und interessante Interviews aus diesen Kreisen mehr vermittelt. [...] Regierungsstellen und Parteien leisten darüber hinaus auch direkte Zahlungen an die Journalisten um ihnen die Entscheidung zu erleichtern, wie sie einen bestimmten Sachverhalt darstellen sollen. Wer diese Hinweise noch immer nicht verstanden hat, darf mit massiven Drohungen rechnen. Und wer partout nicht einsehen will, wer der Stärkere im Land ist, muss gar mit einem Attentat rechnen. Erschossene Journalisten hat es in den vergangenen Jahrzehnten in Mexiko genügend gegeben" - so Klaus Boll in seinem Buch "KulturSchock Mexiko" über die Pressefreiheit in diesem Land, und weiter: "Die Mexikaner wissen von diesen Praktiken und sind darauf eingestellt, sie vermögen zwischen den Zeilen zu lesen. [...] Um bestimmte Informationen, Andeutungen, zarte Hinweise und versteckte Signale zu verstehen, muss man bereits zahlreiche andere Kenntnisse besitzen. Viele gerade in der Öffentlichkeit gemachte Aussagen ergeben ohne diese zusätzlichen Informationen wenig Sinn." Ja, das kommt mir irgendwie bekannt vor...

In Mexiko zu leben bedeutet (neben all den schönen Dingen, die das Land bietet und neben all den tollen Erfahrungen, die man hier sammeln kann) einen Verlust an Freiheit, ein Unwohlsein und das Gefühl verletzlich zu sein, das man immer mit sich herumschleppt. Das kommt vor allem auch daher, dass auf die Polizei kein Verlass ist. So was Korruptes wie die mexikanische Polizei kann man sich gar nicht vorstellen. Man kommt gar nicht darum herum persönliche Erfahrungen damit zu machen. Korruption ist Alltag. Sie durchsetzt den ganzen Polizeiapparat und alle, die hier leben, lernen sie kennen (siehe dazu zum Beispiel den blogtext "Ohne Kommentar"). Das Ganze ist relativ leicht erklärbar: Die Polizisten sind schlecht ausgebildet und werden schlecht bezahlt. Viele sind regelrecht auf Schmiergelder angewiesen, denn nur so können sie ihre Familien versorgen. Macht bedeutet Sicherheit. Und Menschen Macht zu geben, die keine Sicherheit haben - das ist ein gravierender Fehler, den kein System machen sollte. Es ist genau der Fehler, den Mexiko macht. So was wie "öffentliche Sicherheit" gibt es viel zu wenig in diesem Land. Der SWR-Korrespondent weist im podcast darauf hin, dass nur elf Prozent der Mexikaner Steuern zahlen. Und er fragt zu Recht: Woher also soll das Geld kommen für öffentliche Sicherheit? Diese Verbindung `Steuern zahlen = in öffentliche Sicherheit investieren` existiert in zu vielen mexikanischen Köpfen nicht - auch nicht in den Köpfen der verantwortlichen Politiker. Welche Freiheit wir in Deutschland haben (auch bedingt durch soziale Gerechtigkeit) - das ist eines der Dinge, die ich erst hier in Mexiko so richtig zu schätzen gelernt habe.

Die aktuelle Situation ist ein Teufelskreis und Mexiko ist auf dem Weg nach unten. Das bezieht sich nicht nur auf den Aspekt der Sicherheit. Die meisten der staatlichen Schulen sind eine Katastrophe. Doch private Schulen und Universitäten (die es hier gibt und die wirklich gut sind) kann sich nicht einmal die mexikanische Mittelschicht leisten. Wer Geld hat, kann in Mexiko ALLES erreichen. Und das ist ganz wörtlich gemeint: ALLES. Zum Beispiel kann man sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit genügend Geld von jeder erdenklichen Strafe freikaufen, egal welches Verbrechen jemand begangen hat. Geld ist der Schlüssel zu allem. Nicht zufällig kommt der zweitreichste Mann der Welt aus Mexiko. Wer jedoch kein Geld hat, wer arm geboren wird, der stirbt in der Regel auch arm. Soziale Sicherungssysteme gibt es, doch sie greifen viel zu wenig. Wer im Arbeitsleben scheitert, kann sich in der Regel nur auf die Familie als soziale Stütze verlassen. So kommt es, dass ein Familienvater oft nicht nur seine eigene Kleinfamilie versorgen muss, sondern Großeltern und/oder arbeitslose/geringverdienende Verwandte gleich mit. Mit Jobs wie Bus oder Taxi fahren ist das nahezu nicht möglich. Trotzdem ist die Familie der wichtigste, der zentrale Anlaufpunkt für die meisten Mexikaner und Mexikanerinnen. Sehr viele (gerade auch sehr viele Studenten) leben vorwiegend in der Großfamilie.

Daher war es für uns Austauschstudenten hier auch sehr schwierig, Freundschaften zu Mexikanern aufzubauen. Zum Beispiel gelang es mir nur zu einem einzigen Mädchen aus meinen drei Kursen so etwas wie eine Freundschaft zu erreichen. Oft habe ich von MexikanerInnen gehört, das läge an uns Europäern, wir seien so frío, so kalt und unnahbar. Ich glaube, es liegt nicht nur an uns. Ich bin am Anfang des Semesters auf meine neuen Kommilitonen und Kommilitoninnen zugegangen, auch mit der Intention Freundschaften zu schließen. Zum Beispiel gab es da Fidel, einen Soziologiestudenten aus dem Semester über mir, den ich zufällig kennenlernte und mit dem ich mich in der ersten Woche eine Weile unterhalten habe. Großer Fehler. Am nächsten Morgen kam seine Freundin zu mir, die in meinem Kurs war und sagte auf Spanisch zu mir auf: "Lass Fidel in Ruhe, ihr Mädchen aus der ersten Welt braucht gar nicht hier her kommen und denken, ihr könnt uns die mexikanischen Männer ausspannen." Ich war völlig perplex. Weder Fidels Freundin noch eine ihrer Freundinnen aus meinem Kurs haben das ganze Semester auch nur ein Wort mit mir gewechselt. Dann gab es da noch Emir, einen sehr netten Kommilitonen, der meistens in den Kursen neben mir saß und mit dem ich mich gut verstanden habe - solange seine Freundin nicht in der Nähe war. Sobald seine Freundin dabei war hat Emir mir nicht einmal mehr "Hola" gesagt. Paulina war und ist bis heute die einzige Mexikanerin mit der ich auch außerhalb der Kurse Kontakt hatte und mit der ich auch in Verbindung bleiben werde, wenn ich wieder in Deutschland bin. Diese Freundschaft ist ein Einzelfall. Doch zum Glück war auch Fidels Freundin ein Einzelfall. Ich wurde in meinem Kurs von den meisten durchaus nett und zuvorkommend behandelt und es gab viele Kommilitonen, die mir geholfen haben, wenn ich Fragen hatte. Von den meisten wurde ich auch mit Interesse beobachtet. Eine Einladung nach Hause, zum Beispiel, oder ein gemeinsames Kaffeetrinken gab es hingegen kaum. Nicht, dass Einladungen nicht ausgesprochen worden wären - im Gegenteil. Doch daraus ist nie was geworden. Solche Einladungen kann man hier auch wirklich erst ernst nehmen, wenn sie vier, fünf Mal ausgesprochen werden. Schade. Außerhalb der Uni haben wir jedoch viele sehr nette Menschen kennengelernt, darunter auch viele Mexikaner, die mich immer wieder aus meinem zwischenzeitlichen Mexikoma gerissen haben.

Was ich furchtbar fand und woran ich mich nie gewöhnen konnte war dieses Rassen-Ding. Ich war in meinen Kursen ständig nur "la chica del primer mundo - das Mädchen aus der ersten Welt". Ich habe das ganze Semester über so oft gehört, dass jemand gesagt hat "Das Mädchen aus der ersten Welt hat ´ne 10 in der Klausur", "Das Mädchen aus der ersten Welt hat seinen Aufsatz schon abgegeben", "Das Mädchen aus der ersten Welt hat den Text nicht gelesen", "Das Mädchen aus der ersten Welt hat dieses oder jenes"... Schrecklich. Was ich auch furchtbar fand und woran ich mich nie gewöhnen konnte war, dass mir so oft Leute, vor allem Männer, "pinche gringa" oder "pinche güera" hinterhergerufen haben. "Güera" heißt eigentlich nichts weiter als "blond". Blond, blauäugig, hellhäutig - das ist hier nicht nur das allgemeine Schönheitsideal, sondern das bringen viele Mexikaner immer in Verbindung mit reich, stark und "was Besseres sein". Und viele sind neidisch, auf den Wohlstand, den sie damit verbinden, auf soziale Gleichheit, Sicherheit, ... Und das Wort "güera" bezieht sich nicht nur auf die Haarfarbe, sondern - wie die Mexikaner auch selbst sagen - auf die Rasse. Daher ist die adäquate Übersetzung für "pinche güera" so was wie "Scheiß Weiße". Ich habe das so oft gehört. Männer haben mir das aus dem Auto heraus hinterher geschrien. Verkäufer haben mich so genannt, wenn sie dachten, ich könne kein Spanisch. Und ich fand das furchtbar. Rassismus war für mich immer ein Thema. Ich hätte nur niemals damit gerechnet, dass Rassismus etwas ist, was mir passiert. So kann und will ich auf die Dauer nicht leben.

Mexiko ist ein Land mit vielen Abgründen und vielen Schattenseiten. Doch trotz allem - nach einem halben Jahr in Mexiko kann ich sagen: Ich habe gerne hier gelebt, jedenfalls die meiste Zeit. Mi querido Mèxico ist ein faszinierendes Land und ich werde wieder hier her kommen, irgendwann.

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